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Amélie Nothomb – über die Liebe zweier Schwestern

Jeder neue Roman von Amélie Nothomb ist in Frankreich ein sicherer Bestseller.

Für ihr jüngstes Werk Le Livre des sœurs erhielt sie 2023 den ›Prix Jean Monnet de littérature européenne‹. Im Juni 2024 erschien bei Diogenes die deutsche Übersetzung von Brigitte Große unter dem Titel Das Buch der SchwesternDer Roman erzählt die Geschichte einer ganz besonderen Liebe und vom Zusammenhalt zweier Schwestern, die ohne jegliche Zuneigung ihrer Eltern auskommen müssen.

Erhalten Sie mit dieser Leseprobe einen ersten Vorgeschmack auf den Roman.

Foto: © Catherine Cabrol

Leseprobe

(Auszug Seite 42 bis 47)

Eine neue Weltordnung entstand. Nora war der Ansicht, sie habe ihre Pflicht erfüllt – in Bezug auf die Nachkommenschaft (zwei Kinder, das war ja nicht nichts!) und in Bezug auf Tristane. Wozu ihr nun noch Aufmerksamkeit schenken? Ihr oder Laetitia? Warum sollte sie sich die Mühe machen? Die Ältere ließ die Jüngere ohnehin nicht aus den Augen. Es waren noch Sommerferien, Tristane gab Laetitia das Fläschchen, wickelte, wiegte, tröstete sie.
Florent rief die Vorschullehrerin an und fragte:
»Spricht etwas dagegen, dass meine Tochter erst in sechs Monaten wiederkommt?«
»Madame Vernier hat mir von Tristane berichtet. Sie meint, sie hätte schon Grundschulniveau.«
Die Eltern dachten nicht weiter darüber nach, sie freuten sich nur über die Befreiung.
»Tristane, du musst vor dem nächsten Frühjahr nicht mehr zur Schule. Du wirst dich um die Kleine kümmern.«
Die großartige Neuigkeit veranlasste Tristane zu Freudentänzen.

Nora nahm im September ihre Arbeit wieder auf. Morgens fuhren die Eltern mit dem Auto weg und ließen ihre Töchter zu Hause allein. Dass eine erwachsene Person da sein müsste, kam ihnen nicht in den Sinn. Tristane war doch so vernünftig. Bei ihr gab es kein Versagen, keine Dummheit, keine Kindereien.
»Wenn es ein Problem gibt, rufst du mich an«, sagte Nora jeden Tag zum Abschied.
Tristane rief nie an. Wenn sie unsicher war, telefonierte sie mit ihrer Tante. Zwar wusste sie, dass die ihr auch nicht helfen konnte, aber zumindest sprach sie mit jemandem, der sich um sie sorgte.
Die Entscheidung ihrer Schwester und ihres Schwagers nahm Bobette kritiklos hin.
»Sie haben recht, du musst nicht in die Schule.«
»Soll ich Laetitia auf den Bauch legen oder auf den Rücken?«
»Keine Ahnung. Wenn du das Baby in sein Bettchen legst, rollt es sich schon zurecht, auf die eine oder andere Seite. Das ist meine Erfahrung.«
Dank dieser Antwort entkam Laetitia dem merkwürdigen Diktat der damaligen Kinderärzte, Babys müssten bäuchlings liegen – eine schlechte Angewohnheit, die viele ihr Leben lang beibehielten.
Abgesehen von solchen Fragen genoss Tristane das Zusammensein mit ihrer Schwester. Es gab immer etwas Fantastisches zu tun oder zu sehen. Und unter ihrem beständigen liebenden Blick wurde Laetitia außergewöhnlich aufgeweckt.
Abends, wenn die Eltern heimkamen, scherzte der Vater:
»Na, meine Süßen, habt ihr uns schon Abendessen gemacht?«
Tristane lachte aus Gefälligkeit und Gewohnheit, um darauf hinzuweisen, wie absurd diese Frage war. Nora fand, dass sie eine gute Mutter war, schließlich quollen Kühlschrank und Schränke von Vorräten über.
Während sie eine Mahlzeit zusammenköchelte und Florent den Tisch deckte, gab Tristane ihrer Schwester das Fläschchen, küsste sie und brachte sie zu Bett.
»Keine Angst, Laetitia. Ich bin bald wieder da.«
Bei Tisch fragten die Eltern anstandshalber:
»Alles gut gelaufen? Und die Kleine war brav?«
Da Tristane stets eine ebenso beruhigende wie nichtssagende Antwort gab, hörten sie ihr bald nicht mehr zu. Solange sie das einzige Kind gewesen war, hatte die Regel gegolten, erst aufzustehen, wenn alle fertiggegessen hatten. Jetzt hatte sie einen guten Grund zu gehen, wenn ihr Teller leer war.
»Darf ich wieder zur Kleinen?«
Das wurde umso bereitwilliger erlaubt, als Nora und Florent möglichst bald wieder ihrem Daueridyll huldigen wollten. Nicht, dass sie sich schämten, sich in Gegenwart ihrer Tochter tief in die Augen zu schauen, aber die Anwesenheit einer Fünfjährigen verhinderte doch die eine oder andere Liebeshandlung.
Kein Anblick erfreut so sehr wie der Schlaf eines geliebten Wesens. Wenn dieses zu allem Überfluss auch noch ein Baby ist, kommt zu diesem Glück auch noch das ewige Rätsel: Wovon träumt man mit drei Monaten?
Tristane betrachtete ihre schlafende Schwester stundenlang. Und hielt die Luft an, um sie nicht zu wecken. In dieser absoluten Stille konnte sie die Kleine atmen hören, und das zarte Geräusch machte ihre Seele weit vor Freude.
Ihr Bett war etwas erhöht, sodass sie Laetitia nie aus den Augen verlor. Dort lag sie auf der Seite, ihre Schwester im Blick. Die Nachttischlampe machte es möglich, dass sie nichts von diesem faszinierenden Schauspiel versäumte. Meist wurden die Schwestern davon wach, dass die Eltern in ihr Zimmer hinaufgingen. Vorsichtig gesprochen, waren sie nicht ganz so rücksichtsvoll wie ihre Älteste.
»Sind wir nicht zu laut für die Mädchen?«, hörte sie manchmal.
»Ach was! In dem Alter schläft man doch tief und fest.«
Wenn Laetitia die Augen aufschlug, fing sie nicht gleich zu schreien an. Sie schien zu überlegen, mit welchem Laut sie sich ausdrücken sollte. Dann nahm Tristane sie auf den Arm und legte ihr einen Finger auf die Lippen.
»Schhhh! Wenn du weinst, kommen Papa und Mama. Und du willst doch mit mir allein bleiben, oder?«
Man hätte meinen können, das Baby verstand sie, denn es verzichtete auf Geschrei. Dann sang Tristane ihm leise selbst erfundene Reime zu Melodien ohne Anfang und Ende vor.
»Papa und Mama sind sehr lieb, aber sie spielen lieber allein, Kinderspiele sind nichts für sie, sie machen komische Sachen, sie waren nie Kinder, und wir werden nie groß … «
Fasziniert und mit offenem Mund lauschte Laetitia den impertinenten Hymnen, manchmal lächelte sie verschmitzt. Wenn sie Hunger hatte, zeigte sie auf das Fläschchen. Tristane gab es ihr, hingerissen, und Laetitia sah ihr beim Trinken tief in die Augen.
Dann ließ Tristane sie ihr Bäuerchen machen und legte sie wieder hin.
Manchmal war das Unbehagen anderer Art, was das Baby durch ein charakteristisches Japsen zu erkennen gab. Dann wickelte Tristane es, nicht ohne vorher den roten Popo zu säubern.
Am Ende schliefen die Schwestern gemeinsam ein. Nichts bekommt der Liebe besser als geteilter Schlaf. Im Elternzimmer geschah ein ähnliches Wunder: Florent legte seine Arme um Nora und schmiegte sich an sie. Doch ihre Zufriedenheit kam nicht an die der Kinder heran. Es mischten sich Plattitüden hinein, Vorgriffe wie Schatz, erinnerst du mich daran, die Mülleimer rauszustellen, das haben wir letzten Donnerstag vergessen.
Die Mädchen dagegen lebten nur im Moment. In der Genesis gibt es einen Abend und einen Morgen. In der Kindheit existiert nur das Jetzt.


Gespräch mit der Autorin

Was mit ihren unzähligen, noch unveröffentlichten Manuskripten geschieht und weshalb sie exakt 20 Briefe pro Tag beantwortet, gibt es hier im Interview zu hören: 

radio3: Amélie Nothomb - Die Schriftstellerin im Porträt


Das Buch der Schwestern
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Das Buch der Schwestern

Aus dem Französischen von Brigitte Große

Nora und Florent lieben sich so innig, dass sie in ihrem Herzen keinen Platz mehr übrighaben. Auch nicht für ihre erste Tochter. Das Mädchen muss schon früh allein zurechtkommen. Deshalb ist sie überglücklich, als ihre Schwester geboren wird. Die beiden geben sich, was die Eltern ihnen vorenthalten: Wärme und Geborgenheit. Als die Ältere beschließt, ihren eigenen Weg zu gehen, wird die Schwesternliebe auf die Probe gestellt.

Mehr zum Inhalt
Tristane wird in den ersten Lebensjahren von ihren Eltern kaum beachtet. Umso glücklicher ist sie, als ihre kleine Schwester Laetitia zur Welt kommt. Die beiden sind innig miteinander verbunden und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Tristane ist folgsam und Klassenbeste, Laetitia eckt an und gründet die Rockgruppe ›Pneus‹, in der zunächst auch Tristane mitspielt, bevor sie zum Studium nach Paris geht. Laetitia bleibt allein bei den Eltern zurück, und fast verkümmert sie – wäre da nicht ihre Cousine Cosette aus der Sozialsiedlung, die auch in der Band spielt. Sie bringt genug Wut und Realitätssinn mit, um Laetitia damit anzustecken und aus ihrer Leere zu reißen. Zumindest vorerst.

Hardcover Leinen
160 Seiten
erschienen am 26. Juni 2024

978-3-257-07286-0
€ (D) 23.00 / sFr 31.00* / € (A) 23.70
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

Amélie Nothomb, geboren 1967 in Kobe, Japan, hat ihre Kindheit und Jugend als Tochter eines belgischen Diplomaten hauptsächlich in Fernost verbracht. In Frankreich stürmt sie mit jedem neuen Buch die Bestsellerlisten und erreicht Millionenauflagen. Ihre Romane erscheinen in über 40 Sprachen. Für Mit Staunen und Zittern erhielt sie den Grand Prix de l'Académie française, für Der belgische Konsul den Prix Renaudot 2021 und den Premio Strega Europeo. Amélie Nothomb lebt in Paris und Brüssel.