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»Ich bin anders. Ich sehe mehr als andere. Und ich spüre das auch.« Viktorija Tokarjewa im Gespräch

In ihrem neuen Buch Auch Miststücke können einem leidtun erzählt Viktorija Tokarjewa vom Leben auf der Datscha und dem Überlebenskampf in der Großstadt, von der Bohème und der ländlichen Armut, von unerwarteter Güte und der Bosheit der Menschen, von Schicksalsschlägen und glücklichen Wendungen, von der Gelassenheit des Alters, vom Ungestüm der Jugend und immer wieder von den Seltsamkeiten der Liebe.

Foto: © Isolde Ohlbaum

Sie sind vor einigen Jahren aus Moskau weg und aufs Land gezogen. Seither tauchen in Ihrem Werk neue Themen auf, die mit dem Leben auf der Datscha zu tun haben. Hat sich Ihr Blick auf die Welt verändert?

Viktorija Tokarjewa: Mein Blick auf die Welt hat sich nicht verändert, es ist nur einfach sehr viel angenehmer und gesünder, in der Natur zu leben als in einer riesigen Großstadt.

Haben Sie sich denn in der Stadt unbehaglich gefühlt?

Nein, das nicht, aber das Stadtleben ist etwas für junge Leute, die voller Kraft und Ehrgeiz sind.

Es gibt urbane Menschen, die die Stadt lieben. Und es gibt Menschen, die die Stadt nicht mögen, die die Natur vorziehen. Ich persönlich gehöre zu letzteren. Auf meinem Datscha-Grundstück gibt es vierzig Birken und acht Tannen, und wenn ich auf den Hof hinausgehe, setze ich mich zwischen die Bäume, schaue in den Himmel und fühle, dass ich hier an meinem Platz bin.

Sergei Arsenevich Vinogradov [Public domain], via Wikimedia Commons

Und woher nehmen Sie dann die neuen Helden und Charaktere für Ihre Erzählungen?

Menschen gibt es überall. Und Kummer und Freude gibt es ja auch überall.

In Ihrem neuen Erzählband Auch Miststücke können einem leidtun ist die Erzählung Warum nicht? enthalten, die ursprünglich auf einem Drehbuch beruht und im muslimischen Usbekistan spielt. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Dieses Drehbuch habe ich noch in der Sowjetzeit geschrieben. Usbekistan war ja eine unserer Sowjetrepubliken, und man beauftragte mich, ein Drehbuch für ei🐰n usbekisches Filmstudio zu schreiben. Daraus ist dann nie ein Film geworden. Vor einiger Zeit habe ich das Drehbuch noch einmal durchgelesen und hatte auf einmal Lust, diese Geschichte zu verbessern und als aktualisierte Version neu zu erzählen.

Ich erinnere mich noch gut an meinen Aufenthalt in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans. Im Hof vor dem Filmstudio wuchs ein Aprikosenbaum, und die riesigen reifen Aprikosen fielen herunter und klatschten auf den Asphalt. Was für ein Paradies.

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Ist das Thema Feminismus, das in Warum nicht? angesprochen wird, für Sie noch aktuell?

Unabhängig von jeder Modeströmung habe ich mein Leben sowieso schon als Feministin gelebt. Ich habe immer mehr verdient als mein Mann, ich habe meine Familie mit meinem Geld über die Runden gebracht, und mein Mann hat fünfzig Prozent der sogenannten Frauenarbeit gemacht: Geschirr spülen, staubsaugen und so weiter. Deshalb verstand ich damals gar nicht, als die Feministinnen für diese Sachen zu kämpfen anfingen, wofür sie kämpften: Man sollte doch einfach so leben und fertig.

Aber wäre es denn schlecht, die Frau von Bill Gates zu sein?

Oha! Doch, ich glaube schon. Denn man könnte zwar das Leben in vollen Zügen genießen, aber andererseits hätte man nichts, wofür man kämpfen müsste, man müsste gar nichts selbst erreichen. Mir scheint, davon verkümmert doch etwas in der Seele.

Dann ist das Leben auf dieser Erde also ein Kampf und nicht ein Aufenthalt im Paradies?

Das Leben auf der Erde ist vielfältig: das Paradies, die Hölle, das Fegefeuer, das Jüngste Gericht – all das ist im Leben enthalten.

Wenn man die Erzählung Der Schuss im neuen Buch gelesen hat, möchte man fragen: Ist denn die Vergeltung unabwendbar?

Am Ende des Lebens erwartet jeden Menschen der Tod – insofern könnte man das natürlich als Vergeltung auffassen.

Die Natur verbirgt das Leben nach dem Tod vor uns. Entweder verbirgt sie es gut, oder das gibt es gar nicht. Aber leben wir weiter, dann werden wir schon sehen.

Dem Titel des neuen Bandes Auch Miststücke können einem leidtun liegt ja ein christlicher Gedanke zugrunde: das Vergeben. Und wie ist es bei Ihnen selbst, verzeihen Sie Ihren Mitmenschen?

Nein. Damit tue ich mich ziemlich schwer.

Wie stehen Viktorija Tokarjewa, die Schriftstellerin, und Viktorija Tokarjewa, der Mensch, zueinander?

Ich denke, Schriftsteller oder Schriftstellerin wird man nicht aus Zufall. Durch einen Schriftsteller drückt Gott sich aus. Also ist man nicht wie alle anderen. Ich bin anders. Ich sehe mehr als andere. Und ich spüre das auch. Leonardo da Vinci hat beispielsweise, als er sich für den Dienst bei Cesare Borgia bewarb, in seinem Brief alles aufgezählt, was er konnte. Am Schluss stand der Satz: »Und ich kann besser zeichnen als jeder andere.« Auch Puschkin hat gespürt und gewusst, dass er ein Genius war. Ich will mich weder mit Puschkin noch mit Leonardo da Vinci vergleichen, aber wenn ich beim Schreiben ein paar gute Minuten habe, empfinde ich die Anwesenheit einer höheren Macht. Dann arbeite ich wie in einer Art Co-Autorschaft.

Worin unterscheiden sich die Menschen der deutschsprachigen Welt und die Russen?

Die interessanten Deutschen, oder deutschsprachigen Menschen, sind den interessanten Russen sehr ähnlich. Die deutsche Intelligenzija steht der russischen Intelligenzija nahe. Und uninteressante Deutsche, Österreicher und Schweizer habe ich nie kennengelernt. Man hat sie mir nicht gezeigt. Ich werde niemals Daniel Keel vergessen, den Gründer des Diogenes Verlags. Er war ein Genius des Verlagswesens. Er verstand etwas von der Literatur und liebte die Schriftsteller. Er fehlt mir sehr.

Was ist Liebe?

Zum gegebenen Moment meines Lebens liebe ich meine Enkel und meinen Kater. Praktisch gesehen äußert sich die Liebe ja in Hingabe. Wie kann man das Leben der geliebten Wesen so viel wie möglich verschönern? Dem Kater gibt man Fisch. Den Enkeln einen Computer.

Was ist ein gutes Buch?

Ein gutes Buch ist eines, in dem Gott sich ausdrückt.

Was ist ein gutes Leben?

Ein gutes Leben ist die Fähigkeit zur Liebe und einem eigenen Schaffen.

Die Fragen stellte Danil Gurjanow, 18. August 2016. Aus dem Russischen von Angelika Schneider.

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Auch Miststücke können einem leidtun, aus dem Russischen von Angelika Schneider, ist am 26.10.2016 erschienen. Auch als ebook.

Viktorija Tokarjewa, 1937 in St. Petersburg geboren, studierte nach kurzer Zeit als Musikpädagogin an der Moskauer Filmhochschule das Drehbuchfach. 15 Filme sind nach ihren Drehbüchern entstanden. 1964 veröffentlichte sie ihre erste Erzählung und widmete sich von da an ganz der Literatur. Sie ist heute eine der bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellerinnen Russlands und lebt heute in Moskau.