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»Grundsätzlich sind wir Menschen aus dem gleichen seelischen Material gemacht.«
Moritz Heger im Diogenes Interview

Moritz Hegers zweiter Roman Die Zeit der Zikaden liegt pünktlich zum Sommer in den Buchhandlungen. Im Roman treffen Alex und Johann per Zufall aufeinander. Die frisch pensionierte Lehrerin und ehemalige Leitung der Theater AG und der Familienvater, von Beruf Bestatter, sind sehr verschieden. Trotzdem verbindet sie etwas miteinander. Auf Johanns Einladung hin reist Alex nach Ligurien – sie verbringen einen Sommer in Italien, der für beide Auszeit und Aufbruch bedeutet.

Im Diogenes Interview beantwortet der Stuttgarter Autor Fragen zu seinem Roman und erzählt, was ihn zum Schreiben des Romans inspirierte, was Selbsterforschung und Reflexion mit seinem Schreibprozess zu tun haben und warum auch gegensätzliche Charaktere sich anziehen können. 

Foto: Maurice Haas / © Diogenes Verlag

Selbsterforschung und Reflexion der eigenen Lebensweise spielen schon in Ihrem letzten Roman Aus der Mitte des Sees eine Rolle. In Die Zeit der Zikaden kehren Sie zu diesen Themen zurück. Könnte man sie als Leitmotive in Ihrem Schreiben bezeichnen? 

Moritz Heger: Absolut. Mich treibt es beim Schreiben an, tief in den Charakter meiner Protagonisten und Protagonistinnen einzutauchen. Ich versuche ganz bei ihnen zu sein, ihren Gedankengängen, Wahrnehmungen und Gefühlen zu folgen. Möglichst ohne Urteil. Die Figuren urteilen zwar ständig, aber ich halte mich damit zurück. Mein Schreiben hat etwas Psychoanalytisches.
In einem Roman ist so ein Blick besonders spannend, wenn Menschen sich in Umbrüchen befinden. Wenn sich die Frage von äußerem Aufbrechen stellt, bricht oft auch innerlich etwas auf.

Verraten Sie uns, was es mit der Zeit der Zikaden auf sich hat?

Moritz Heger: Na klar. Wobei Zikaden ziemlich geheimnisvolle Tierchen sind. Und Geheimnisse, wie man weiß, dafür da sind, dass man sie wahrt … Nun also, um es kurz zu machen: Zum einen haben Zikaden einen seltsamen Lebenszyklus, leben lange als Larven und nur kurz als das, was wir ihre eigentliche Form, ihre Bestimmung nennen würden. Zikaden sind sozusagen schon alt, wenn sie auf die Welt kommen, springen, fliegen und ›lieben‹. Das bietet spannende Übertragungsmöglichkeiten auf uns Menschen. Zum anderen hat das charakteristische Geräusch, das Zikaden machen, etwas von einer Uhr, einem Metronom.

Mit der ehemaligen Lehrerin Alex teilen Sie die Leidenschaft für das Theater. Was fasziniert Sie daran? 

Moritz Heger: Das Tolle am Theater ist für mich, dass es eine ganz altmodische Kunst ist. An den Körper, die Stimme, den Menschen gebunden. Im Kern undigital. Theater ist ans Jetzt und Hier gebunden, jede Aufführung ist anders – und wenn sie vorbei ist, ist sie unwiederbringlich vorbei. Wir
sehen im Grunde Menschen beim Leben zu. Sie sind ganz nah und doch in einer anderen Welt. Das hat eine wahnsinnige Faszination für mich. Theater ist eine tief humane Kunst.
Bei Alex geht es um Laientheater. Sie macht Theater mit Schülerinnen und Schülern, nicht mit Profis. Alex verhilft jungen Menschen dazu, dass sie zu sich stehen und sich zeigen können, wie sie sind. Im wörtlichsten Sinne.

Foto von Darrien Staton auf Unsplash

Alex entscheidet sich, ihre Altbauwohnung aufzugeben und einen minimalistischen Neustart zu wagen. Vom Tinyhouse auf Rädern verspricht sie sich neuen Schwung im Leben. Wie kam es zu der Idee, das Tinyhouse in den Roman einzubringen?

Moritz Heger: Ich hatte die Figur Alex schon länger vor Augen, aber zunächst stimmte das Setting nicht. Sie war erst um die 50. Und dann kam der Twist: Das ist Vergangenheit, und jetzt ist sie 63 und geht in den Ruhestand. Und da war das Tinyhouse auf einmal da. Auf solche Ideen komme ich nicht am Planungstisch, sondern im Schreiben, im Flow. Und wenn sie dann in der Welt sind, entwickeln sie ein Eigenleben. Ich persönlich habe zum Konzept ›Tinyhouse auf Rädern‹ – ähnlich wie übrigens zum Konzept ›Mönch‹ im letzten Roman – eine gewisse Distanz, aber keine große. Ich selbst werde beides wohl nicht in die Tat umsetzen, aber in einem Paralleluniversum kann ich mir das gut vorstellen.

Trotz ihres ähnlichen Alters haben Johann und Alex sehr unterschiedliche Einstellungen zum Leben. Im Roman heißt es so schön: »Die einen haben Angst vor Stillstand, die anderen vor Veränderung.« Aber geht das eine ohne das andere? 

Moritz Heger: Wir leben immer in einem Netz von Polaritäten. Unseren Charakter macht aus, dass der eine mehr dahin neigt und die andere dorthin. Aber grundsätzlich sind wir Menschen aus dem gleichen seelischen Material gemacht – sonst könnten wir uns auch nicht verstehen.
Im Roman reden die Figuren über den psychoanalytischen Klassiker von Fritz Riemann Grundformen der Angst, sie beziehen sich auf die Positionen dieses Konzepts.
Es ist natürlich interessant, zwei Figuren zu haben, die sich nicht zu ähnlich sind, sondern an entscheidenden Punkten gegensätzlich.

Sie lassen eine Ihrer Figuren sagen: »Frauen verzeiht man im Lehrerberuf Gnadenlosigkeit weniger als Männern, nach wie vor.« Ist das etwas, das Sie aus Ihrer eigenen Erfahrung als Lehrer bestätigen können? 

Moritz Heger: Ich glaube, dass es nach wie vor eine Rolle spielt, welches Geschlecht eine Lehrperson hat. Dass es von daher wichtig ist, dass Schüler weibliche und männliche Lehrpersonen haben. Den zitierten Satz denkt Alex. Für ihre Generation und Erfahrung stimmt er. Ob man ihn allgemein unterschreiben kann, weiß ich nicht. Aber was nach wie vor stimmt: Lehrerinnen werden anders wahrgenommen als Lehrer. Das hat für beide gute und weniger gute Seiten.
Im Übrigen ist Gnadenlosigkeit natürlich nichts, was ein Lehrer – oder eine Lehrerin – ausstrahlen sollte. In der Schule muss es immer auch um die zweite Chance und die offene Zukunft gehen, Schülerinnen und Schüler dürfen nicht abgeurteilt werden.

Das Altern steht uns allen bevor. Was können wir darüber von Alex und Johann lernen? 

Moritz Heger: Nicht alles planen. Versuchen, offen zu bleiben, für Begegnung, Beziehung – das kann auch die ›alte‹ Beziehung oder Ehe sein, die will ja auch immer wieder neu mit Leben gefüllt werden. Oder eben eine neue Beziehung. Warum soll man sich mit Mitte 60 nicht verlieben?

 

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Die Zeit der Zikaden

Für Alex beginnt der Ruhestand. Doch statt Ruhe plant sie den Aufbruch ins Ungewisse: Mit einem Tinyhouse auf Rädern will sie alles Gewohnte hinter sich lassen. Johann, Mitte fünfzig, sucht den Ausbruch aus einem fragwürdig gewordenen Beruf und einer erkalteten Ehe. Ein ererbtes Steinhaus in Ligurien scheint ein guter Ort dafür zu sein. Alex folgt Johanns Einladung: Zwei nicht mehr junge und sehr verschiedene Menschen wollen an diesem Sehnsuchtsort die nächste Lebensetappe angehen.


Hardcover Leinen
304 Seiten
erschienen am 26. Juni 2024

978-3-257-07274-7
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