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»Sein liebster Moment des Tages war nachts, wenn wir im Bett lagen, uns an den Händen hielten und über alles sprachen.« Cathy Haruf über ihren Mann Kent Haruf.

Mit Unsere Seelen bei Nacht ist Kent Haruf ein berührender und lebensweiser Roman über zweite Chancen und die Freiheit des Alters gelungen. Er hat ihn kurz vor seinem Tod geschrieben: Kent Haruf starb am 30. November 2014 nach schwerer Krankheit. Ein Gespräch mit seiner Frau Cathy Haruf.

Foto: © Philippe Matsas/Opale/Leemage

Was war die Inspiration für Unsere Seelen bei Nacht?

Cathy Haruf: Ende April 2014 sagte Kent zu mir: Ich werde ein Buch über uns schreiben. Sein liebster Moment des Tages war nachts, wenn wir im Bett lagen, uns an den Händen hielten und über alles sprachen: über das Leben, den Tod, unsere wunderbaren Kinder, unsere Freunde, woran er gerade schrieb, meine Arbeit im Hospiz, lustige Erlebnisse, unsere schönen Jahre zusammen, Frustrationen, Verletzungen, unsere Gefühle füreinander – über alles, was am Tag passiert war (es war für mich und Kent immer wichtig, uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten).

Er sagte mir, er wolle über zwei alte Leute schreiben, die sich nachts unterhalten. Unsere Seelen bei Nacht ist eine Liebesgeschichte über einen Mann und eine Frau, die beschließen, wahrhaft und authentisch zu leben, auch wenn ihre Umwelt sie kritisiert und verurteilt.

Kent und Cathy Haruf in Santa Fe. Foto: © privat.

Können Sie uns etwas über den Schreibprozess erzählen?

Mitte April ging es Kent ein bisschen besser, und er brauchte eine Aufgabe. Er begann eine Kurzgeschichte, sagte mir aber schon bald: »Die Idee hat nirgends hingeführt.« Eines Tages kam er dann rein und sagte: »Ich werde ein Buch über uns schreiben.« Am Morgen des 1. Mai ging er mit seinem Sauerstoffgerät in seinen Schreibschuppen und begann zu schreiben. Ein Kapitel pro Tag, fünfundvierzig Tage lang. Die Arbeit machte ihm große Freude. Jeden Mittag kam er ins Haus und sagte: »Schon wieder ein Kapitel!« Normalerweise brauchte er etwa sechs Jahre, um einen Roman zu schreiben, und er war selbst verblüfft, dass er täglich ein Kapitel schaffte. Aber er wusste, dass er eine Deadline hatte. Er wollte diesen Roman unbedingt zu Ende bringen, bevor er starb.

Kent Harufs »Schreibschuppen« ganz hinten in seinem Garten. Fotos: © privat.


Er schrieb auf einer alten Royal-Schreibmaschine. Wenn er den ersten Entwurf eines Kapitels schrieb, zog er sich eine Mütze über die Augen und schrieb »blind«, so dass er nicht durch Rechtschreibung, Satzbau oder Satzzeichen abgelenkt wurde. Diesen ersten Entwurf korrigierte er von Hand und tippte ihn dann nochmals ab, mit doppeltem Zeilenabstand und auf dem gelben Papier, das er so liebte. Etwa Mitte August sagte er, der Text sei so weit, dass ich ihn lesen dürfe. Ich las das Manuskript, digitalisierte es und führte dann in den nächsten Wochen alle Änderungen aus, die er machen wollte. Und ich las es mehrmals Korrektur. Im September 2014 schickten wir es per E-Mail an seinen amerikanischen Lektor, Gary Fiskjeton bei Knopf, mit den Worten: »Lieber Gary, hier ist eine kleine Überraschung für Dich. Herzlich, Kent«. Sie arbeiteten gemeinsam an dem Manuskript, und drei Tage bevor er starb, sagte Kent zu mir, dass ich den letzten Korrekturdurchgang wohl alleine würde machen müssen. Zwei Tage nach seinem Tod schickte ich das korrigierte Manuskript an den Verlag zurück.

Was bedeutet die Veröffentlichung von Unsere Seelen bei Nacht für Sie?

Für mich ist das Wichtigste, dass Kent die Arbeit an diesem Buch so viel Spaß gemacht hat und dass er es vor seinem Tod noch fertigschreiben konnte. Er hat, so lange er nur konnte, daran gearbeitet, bis zur letzten Minute. Er wollte dieses Buch unbedingt schreiben, wollte es unbedingt beenden – und es seinem Lektor Gary Fiskjeton als eine Überraschung schicken. Und die Überraschung gelang auch.

Es war schön, mit Kent über diese Geschichte zu sprechen. Am Anfang war er nicht sicher, ob er den Roman würde beenden können, darum sollte niemand wissen, dass er daran schrieb. Aber er war so neugierig auf die Reaktionen darauf. Ich stelle mir vor, dass er alles mitkriegt. Unsere Seelen bei Nacht ist für mich ein großes Geschenk.

Die Schreibmaschine, auf der Kent Haruf Unsere Seelen bei Nacht schrieb, neben der US-Ausgabe des Romans. Foto: © privat.


Wie würden Sie Kents Figuren beschreiben?

Wer Kents Bücher kennt, weiß, dass er über die unterschiedlichsten Figuren geschrieben hat. Seine Figuren sind vielschichtig, keiner ist nur gut oder nur böse. Sie sind Menschen, die sich verhalten wie wir alle – voller Angst, Liebe, Bosheit, Freude, Trauer.

Kent selbst empfand den Schmerz, die Traurigkeit in der Welt sehr stark. Er war ein zärtlicher, liebevoller und sensibler Mensch, und das merkt man auch seinen Figuren an.

Im Zentrum von Kent Harufs Werk stehen immer Familien. Was bedeutete das für ihn, Familie?

Kent schrieb häufig über Familie als Seelenverwandtschaft: über Menschen, die einander lieben, einander helfen und unterstützen. Man kann ja Menschen bewusst zu seiner Familie machen, zusätzlich zu denen, mit denen man biologisch verwandt ist. So hat er gedacht und so hat er gelebt.

Kent und sein Enkel Henry. Foto: © privat.


Kent Haruf hat neben dem Schreiben auch creative writing unterrichtet. Was für Ratschläge hat er seinen Studenten gegeben?

Kent sagte seinen Studenten: Leute mit Schreibtalent gibt es in Hülle und Fülle. Was aber oft fehlt, ist das Talent zu harter Arbeit. Lest alles, was ihr könnt. Lest und lest und lest. (Kent selbst war ein großer Bewunderer von Faulkner, Hemingway und ganz besonders von Čechov). Schreibt und schreibt und schreibt. Jeden Tag. Bringt es aufs Papier, schwarz auf weiß. Schreibt über das, was ihr kennt. Lasst andere Leute nicht eure Stimme beeinflussen. Hört euren Lehrern und Dozenten zu, aber dann vergesst alles wieder und werdet eurer eigenen Vision und Stimme gerecht.

Beim Schreiben von Romanen hat Kent nicht an »Inspiration« geglaubt. Für ihn war es harte Arbeit: Jeden Tag hat er sich an den Schreibtisch gesetzt, ob ihm nun danach war oder nicht. Er wollte ja nichts Wichtiges verpassen.

Das Interview wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von picador, wo es am 3. Mai 2016 veröffentlicht wurde. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Margaux de Weck.

 

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Kent Haruf (1943–2014) war ein amerikanischer Schriftsteller. Alle seine sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Er wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers’ Award, dem Mountains & Plains Booksellers Award und dem Wallace Stegner Award ausgezeichnet. Unsere Seelen bei Nacht ist sein letzter Roman, den er kurz vor seinem Tod beendete.

Unsere Seelen bei Nacht ist am 22.3.2017 auf Deutsch erschienen, aus dem Amerikanischen übersetzt von pociao. Auch als ebook und Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen.

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