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»Manchmal ist das Beste, worauf man hoffen kann, ein kleiner Moment des Friedens und eine kleine Gnade.«
Ein Interview mit Dennis Lehane

Sekunden der Gnade – so heißt der neue Roman des Krimi- und Thrillerautors Dennis Lehane, der am 23.8.2023 erscheint. Darin erzählt der US-Amerikaner ungeschönt vom rassistischen Grundtenor und den Unruhen, die 1974 im Kreise der Bostoner Gesellschaft vorherrschten. Im Diogenes-Interview berichtet Dennis Lehane von prägenden Erinnerungen an die Geschehnisse der 70er-Jahre und nimmt eine klare politische Position ein.

Foto: © Gaby Gerster

Ihr neuer Roman Sekunden der Gnade spielt in Boston im Sommer des Jahres 1974, als die Aufhebung der Rassentrennung an Schulen mit dem sogenannten »busing« durchgesetzt werden soll. Kinder aus vorwiegend schwarzen Stadtvierteln wurden in Schulen vorwiegend weißer Viertel gebracht und andersherum. Wie kam Ihnen die Idee, hierüber einen Roman zu schreiben?
Dennis Lehane: Ich wollte schon immer über diesen Sommer in Boston schreiben. Es war eines der Ereignisse, die mein Leben in ein Davor und ein Danach geteilt haben.

Für den Roman mussten Sie zurück ins Boston der 70er-Jahre. Wo haben Sie sich Inspiration geholt?
Dennis Lehane: Ich habe eigentlich gar nicht viel recherchiert. Ich habe lebhafte Erinnerungen daran, welche Kleidung wir getragen haben, wie die Straßen und Fensterbänke rochen, was im Fernsehen und im Radio lief, einfach alles. Ich habe die Lebensmittelpreise recherchiert und mir Nachrichtenmaterial über die Proteste an der City Hall angesehen, die im Mittelpunkt des Romans stehen. Aber ansonsten habe ich mich auf meine Erinnerungen aus dieser Zeit gestützt.

Inwieweit haben auch rassistische Vorkommnisse der jüngsten Vergangenheit Sie inspiriert?
Dennis Lehane: Die jüngsten rassistischen Vorfälle in meinem Land (und anderswo auf der Welt) überraschen mich nicht. Ich bin mitten in einer sehr rassistischen Gesellschaft aufgewachsen. Nicht jeder war ein Rassist, aber ich würde sagen, die große Mehrheit der Erwachsenen, mit denen ich als Kind in Kontakt kam, war es, und sie sprachen auch so. Sie sagten einfach das N-Wort, wann immer ihnen danach war.

Hat es Sie bei der Recherche selbst erschreckt, wie gewalttätig die weiße Bevölkerung Bostons auf das »busing« reagiert hat? Waren Sie oder Ihre Familie ebenfalls betroffen?
Dennis Lehane: Ich habe es miterlebt. Der Protest am Ende des Buches, bei dem sie Abbilder von Richtern und gewählten Vertretern aufhängen und anzünden, in diese Kundgebung bin ich als Neunjähriger zufällig hineingeraten. Einer meiner Brüder wurde per Bustransfer in eine andere Schule gebracht. Ich habe die ganze gewalttätige Show hautnah miterlebt.

Sie schonen Ihre Hauptfigur Mary Pat nicht: Sie ist verwitwet, ihr zweiter Mann hat sie verlassen, ihr Sohn ist an den Folgen seiner Drogensucht gestorben. Wieso ist es wichtig, eine so gezeichnete Frau ins Zentrum der Geschichte zu stellen?
Dennis Lehane: Es gibt ein altes Sprichwort: Wenn man jemandem alles nimmt, hat er nichts mehr zu verlieren. Ich war neugierig, was passieren würde, wenn man das mit einer Frau wie Mary Pat macht, die seit ihrer Kindheit in der einen oder anderen Form, aber oft auch mit den Fäusten, gekämpft hat. Ich dachte: Das ist niemand, mit dem man aneinandergeraten möchte, wenn er nichts mehr zu befürchten hat.

Mary Pat ist keine sympathische Frau und anfangs voller Vorurteile. Und doch ist sie eine großartige Figur. Was hat Sie dazu bewogen, über eine so ambivalente Protagonistin zu schreiben?
Dennis Lehane: Einen Roman über Rassismus zu schreiben, in dem die Protagonistin nicht rassistisch ist, halte ich für einen sehr langweiligen Roman, der auf Nummer sicher geht. Ich mag keine Romane, die auf Nummer sicher gehen. Als ich aufwuchs, kannte ich viele Frauen wie Mary Pat, Frauen, die so manchen Mann mit Leichtigkeit umhauen konnten. Und in ihren Herzen steckten so viel Wut und Hass, ja, aber auch so viel Verlust und Schmerz und sogar Liebe. Diese Art von Paradox fasziniert mich. Ich fühle mich vom Bösen in den guten Menschen und vom Guten in den schlechten Menschen angezogen, weil die wenigsten von uns etwas anderes sind als ein kompliziertes Sammelsurium von Motiven und Begierden. 


Sekunden der Gnade
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Sekunden der Gnade

Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.



Der Roman ist nichts für schwache Nerven. Sie lassen Mary Pat im Roman Gewalt mit Gewalt beantworten und stellen einen Polizeiapparat dar, der sie gewähren lässt. Eine heikle Mischung?
Dennis Lehane: Nein. Nicht in dieser Welt. Ich kenne diese Welt in- und auswendig. Die Menschen in Nord-Dorchester und Süd-Boston griffen genauso schnell zur Gewalt wie zu einer Zigarette oder einer Tasse Kaffee. Und niemand vertraute der Polizei, sodass sie sie auch niemals um Hilfe gebeten hätten.

Mary Pats Gegenpart ist der lebenskluge und streetwise Detective Bobby Coyne. Gab es ein Vorbild für diese Figur?
Dennis Lehane: Ich habe seinen Namen von einem Jugendfreund geklaut, der Polizist wurde. Und seine Schwestern beruhen lose auf einer großen irischen Familie, die ich gut kenne. Aber Bobby war eine dieser wunderbaren Figuren, die zuerst nur für ein Kapitel in ein Buch kommen und dann einfach bleiben. Ich hatte keine Pläne für ihn, die über seine erste Szene hinausgingen, und dann sprang er für eine Weile auf den Fahrersitz und lenkte das Buch, als Mary Pat zu sehr mit ihrer Trauer beschäftigt war. 

Der Titel des Buches Small Mercies ist so etwas wie die Auflösung des Plots. Wie kamen Sie auf dieses Detail?
Dennis Lehane: Nun, in dem Buch kommen sowohl kleine Segnungen als auch kleine Gnaden vor. Das Leben ist ein Kampf, besonders für die Menschen, über die ich gerne schreibe. Manchmal ist das Beste, worauf man hoffen kann, ein kleiner Moment des Friedens und eine kleine Gnade. Und in diesen kleinen Geschenken findet man manchmal die Kraft weiterzumachen.

Viele Ihrer Romane, z.B. Mystic River und Shutter Island, wurden in Hollywood verfilmt. Und die Adaption von Small Mercies als Serie bei Apple TV+ steht bereits fest. Was ist Ihnen dabei besonders wichtig, welche Details der Geschichte müssen unbedingt erhalten bleiben?
Dennis Lehane: Der Geist der Geschichte muss erhalten bleiben. Es muss nicht jeder einzelne Satz wiedergegeben werden, sonst wäre der Film zehn Stunden lang. Aber die Essenz der Geschichte muss durchscheinen.

Sie arbeiten in den letzten Jahren viel für den Film, werden Sie trotzdem weiter Romane schreiben?
Dennis Lehane: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Small Mercies fühlte sich wie ein Ende an, als ich es schrieb. In meinem ersten Roman ging es um Rassismus und in meinem vierzehnten Roman geht es um dasselbe Thema auf eine ganz andere Art und Weise. Vielleicht werde ich keinen weiteren mehr schreiben, ich finde es immer schwieriger und genieße es auf der anderen Seite sehr, mit einer großen Gruppe wunderbarer Menschen Filme und Serien zu machen. Aber ich sage niemals nie. Wenn mich eine Idee packt und ein Roman das einzige geeignete Mittel ist, diese Idee auszudrücken, dann werde ich einen weiteren Roman schreiben. Aber wenn nicht, dann ist das hier ein gutes Buch, um sich zu verabschieden.

Welche Bücher lesen Sie selbst gerade?
Dennis Lehane: Ich lese in letzter Zeit fast ausschließlich Sachbücher. Kürzlich habe ich alles von Reza Aslan über Religion und den historischen Jesus Christus gelesen. Aber kürzlich habe ich mich auch wieder für Belletristik begeistert, für zwei Romane von Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese und Foster –, und mich so sehr in Keegans Stil verliebt, dass ich sie beide ein zweites Mal gelesen habe. Vor einer Woche habe ich dann seit dem Studium das erste Mal wieder Madame Bovary in die Hand genommen. Und ich war auf eine Weise davon gefesselt, wie es mein jüngeres Ich nicht gewesen ist. Wenn man es mit zwanzig liest, kann man es bewundern, aber wenn man es mit fünfzig liest, kann man es fühlen.

Nehmen Sie es in Kauf, mit Ihrem neuen Buch Öl ins Feuer der amerikanischen Rassismusproblematik zu gießen?
Dennis Lehane: Es erscheint lächerlich, so spät im Leben des Planeten Erde darauf hinweisen zu müssen, dass niemand als Rassist geboren wird. Rassismus ist ein widerwärtiges, krebsartiges Vorurteil, das von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Eine Seuche, die demjenigen, der sie in sich trägt – und seinen Nachkommen –, ebenso viel Schaden zufügt wie seinen Opfern. Und im Laufe der Geschichte war es auch das bevorzugte Mittel der Reichen, um die Unterschicht im Kampf gegeneinander zu halten. Das ist wohl kaum ein amerikanisches Problem, sondern ein weltweites.


Interview mit Dennis Lehane von Kati Hertzsch und Stephanie Uhlig, Februar 2023
Aus dem Englischen von Ina Marie Eckert
© by Diogenes Verlag AG Zürich


Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, schrieb für The Wire und war Creative Consultant für Boardwalk Empire. Er unterrichtet Creative Writing u.a. in Harvard. Seine erfolgreich verfilmten Bücher Mystic River und Shutter Island sind Weltbestseller. Dennis Lehane lebt in Kalifornien und Boston.