Filter

  • Neuste Beiträge
  • Archiv
  • Monat
  • Foto/ Video/ Audio

›Hinter den Mauern der Ozean‹ – Anne Reinecke schreibt über den Mut, sich ins Ungewisse zu wagen

Die Welt ist im Wasser versunken, der Stadtkern Berlins ist innerhalb einer gigantischen Mauer verschont geblieben und nichts ist mehr, wie wir es kennen.

In ihrem neuen Roman Hinter den Mauern der Ozean entwirft Anne Reinecke eine außergewöhnliche Vision Berlins. Fünf Menschen leben innerhalb der Mauern des ehemaligen Berlins und folgen einem ewig wiederkehrenden Zyklus. Nur in Lola keimt langsam die Hoffnung auf ein Leben außerhalb der Mauern. Im Interview spricht die Autorin über die Besonderheiten ihres Romans und über die Fragen, die sich ihr beim Schreiben stellten.

Foto: Alberto Venzago / © Diogenes Verlag

Ihr neuer Roman Hinter den Mauern der Ozean ist eine in die Zukunft versetzte Erzählung. Was hat Sie daran gereizt?
Bei meinem ersten Roman Leinsee hatte ich zuerst die beiden Hauptfiguren im Kopf und habe dann die Welt um sie herum gebaut. Bei diesem Buch war es umgekehrt: Ich hatte eine Vorstellung von der Welt, in der der Roman spielen soll, und habe die Figuren dann dort hineingesetzt wie auf eine Bühne. Es war eine ganz andere Art zu schreiben, etwas, was ich noch nie gemacht hatte, was ich nicht einfach aus dem Ärmel schütteln konnte, vielleicht hat mich das gereizt.
Inhaltlich hat sich die Idee aus mehreren Quellen gespeist, Zeitgeschichte, Politik, Persönliches, das Bild eines Kreuzfahrtschiffs in der Lagune von Venedig, am Ende kann ich nicht mehr sagen, was genau der Ursprung war.

Im Roman mischen sich Elemente der griechischen Tragödie, der Dystopie, des Märchens. Wieso war Ihnen diese außergewöhnliche Erzählweise wichtig?
Ich wollte für den Roman einen Klang, der überzeitlich ist und klassisch, der sich keiner bestimmten Epoche zuordnen lässt. Gleichzeitig sollte es sich nicht sperrig oder gekünstelt lesen, sondern so, dass es uns etwas angeht. Daraus hat sich dann beim Arbeiten diese Erzählweise ergeben.

Tempelhof, Charlottenburg, Kreuzberg – spätestens, wenn die Rede vom ›sechssäuligen Tor‹ ist, wird klar, dass Ihr Roman in Berlin spielt. Von der großen Flut verschont geblieben, steht die Stadt umringt von einer undurchdringlichen Mauer. Das weckt Erinnerungen an die historische Berliner Mauer. War Ihnen diese politische Dimension wichtig?
Ja. Ich habe diese Grenze als Kind von beiden Seiten erlebt. Als ich fünf Jahre alt war, sind meine Eltern mit mir aus der DDR ausgereist. Ich erinnere mich an die Zugfahrt, aus dem Fenster war ein Dorf zu sehen, das durch die Grenze geteilt war, die Häuser im Osten waren grau, die im Westen weiß, und in meinem fünfjährigen Kopf war der Grund dafür ganz klar: Das musste an der besseren Luft im Westen liegen. – Eine solche Grenze war das! So ewig und unüberwindlich, dass sie selbstverständlich auch die Luft zerschnitt. Fünfeinhalb Jahre später war diese Grenze Geschichte, meine Mutter fuhr mit mir nach Berlin, wir gingen durchs Brandenburger Tor, hin und her, unfassbar, und wir schlugen Stücke aus der Mauer, einer dieser Betonbrocken liegt heute auf meinem Schreibtisch. Ich war elf Jahre alt beim Mauerfall, und vorher war mir nicht klar gewesen, dass Geschichte etwas ist, was wir beeinflussen können. Neben der Parallele zur Berliner Mauer haben die Mauern in meinem Roman aber auch noch andere Dimensionen. Es gibt die Außengrenze und die innere Mauer, das schafft, so hoffe ich, Raum für weitere Assoziationen, geopolitische und psychologische.

Foto: Freepik

Im Roman wird vieles im Vagen gehalten: die Zeit, zu der er spielt, die Verhältnisse außerhalb der Mauern, die Herkunft der Fremden. Was ist der Kern ihrer Erzählung?
Fragen, um die es mir geht, sind: Was wird von der Festung Europa bleiben? Wie wird Geschichte überliefert? Wer ist ausgestoßen, wer auserwählt? Wann kehren sich diese Rollen um? Wann entscheiden wir uns zur Flucht? Das Buch erzählt eine archaische, postapokalyptische Geschichte über Isolation und Emanzipation. Könnte ich allerdings einen klaren Kern benennen, hätte ich keinen Roman schreiben müssen. Diesen Aufwand betreibe ich, weil es etwas gibt, was kein Gedanke ist und kein Gefühl, was unfassbar ist, nicht begreif- und nicht benennbar. Man kann sich nur annähern, und man muss vorsichtig sein, sanft, damit man es nicht zerstört oder überpinselt. Wenn es gelingt, lässt sich ein Umriss erahnen, und darin liegt der Kern.

Warum werden gerade Papier und Schrift in Ihrem Roman zu Relikten einer vergangenen Zeit?
Ich denke, das hat mit einem wehmütigen Blick auf mein eigenes Medium zu tun, auf Bücher, auf Literatur. Es ist vielleicht auch so etwas wie ein Gruß aus der Küche für meine Leser:innen. Auf der inhaltlichen Ebene geht es darum, was überliefert wird und was nicht, wer die Geschichte kontrolliert. Die Geschichtsschreibung des Ortes bricht im Roman ja irgendwann ab, und ab diesem Punkt gilt es nur noch, den Zustand zu konservieren, ewig und unveränderlich.

Lola, Friedrich, Wilhelm, Alexander und Else sind die fünf ›Ewigen‹, die ihr Leben hinter der Mauer verbringen. Entschwinden sie im Alter, wird eine Person gleichen Namens ›wiedergeboren‹. Woher kam die Idee eines solchen Lebenszyklus?
Ich habe hochgerechnet, was es in allerletzter Konsequenz bedeuten würde, dass nur ganzbestimmte Menschen an einem bestimmten Ort leben dürfen und alle anderen nicht. Dieses Modell kam unterm Strich dabei heraus.

Die ›Ewigen‹ leben in wechselnden Beziehungen miteinander, eine Art polyamore Gemeinschaft. Inwiefern beeinflusst dies das Miteinander der Figuren?
Ich glaube, die wechselnden Beziehungskonstellationen ergeben sich notgedrungen aus den wenigen Figuren und dem abgeschlossenen Raum dieser Schicksalsgemeinschaft, es gibt nicht so viele Möglichkeiten, aber die, die es gibt, werden fast zwangsläufig irgendwann ausprobiert. Das kennen wir aus Fernsehserien mit unbegrenzter Laufzeit bei begrenztem Personal, How I met your Mother oder so etwas. Und wahrscheinlich fallen uns allen auch Konstellationen im echten Leben ein, in denen das so ähnlich abläuft, geschlossene Gruppen wie Sport-Teams, Theaterensembles, Schulklassen und so weiter, die aufeinanderhängen und sich im Laufe der Zeit auf verschiedene Weisen sortieren.

Im Sommer sind Fremde zu Gast hinter der Mauer. Es sind ganze Scharen, die neugierig in die intime Sphäre der fünf Ewigen eindringen. Spielte hier Ihre eigene Erfahrung als Touristenführerin in Berlin eine Rolle?
Ja. Während der Arbeit an meinem ersten Roman habe ich meinen Lebensunterhalt mit Stadtführungen in Berlin, Potsdam und in der Gedenkstätte Sachsenhausen bestritten. Natürlich hat die Welt, die ich im Buch beschreibe, nicht mehr viel zu tun mit dem tatsächlichen Arbeitsalltag einer Gästeführerin. Aber zum Beispiel den Aspekt, dass es sich zugleich um einen dienenden und führenden Beruf handelt, fand ich sehr spannend. Und auch einige Wege und Geschichten, die ich aus dieser Zeit noch mit mir herumtrage, sind in das Buch eingeflossen.

Ihr Roman streift viele der großen Fragen unseres Zusammenlebens in der Zukunft: die Klimakrise, Klimaprivilegien, Überwachung, Fremdbestimmung. Steckt dahinter eine Angst, eine Warnung von Ihnen als Autorin?
Die Bedrohung durch die Klimakrise ist ein Aspekt. Ein weiterer ist, auszumalen, wohin rigorose Abschottung und Konservatismus führen, Bewahren um jeden Preis, Unveränderlichkeit. Angst war aber kein Antrieb bei meiner Arbeit an diesem Buch. Wut vielleicht. Fassungslosigkeit. Aber auch Hoffnung, sonst könnte ich nicht schreiben.

Was möchten Sie Ihren Leser:innen mit diesem Roman mitgeben, was war Ihre Intention beim Schreiben?
Ich bin keine didaktische Autorin. Ich versuche, viel Raum zu lassen, der sich erst beim Lesen füllt. Ich stelle mir immer vor, dass mein Text ist wie eine Stimmgabel: Ich schlage sie an und setze sie auf, aber der Klang entsteht erst durch den Resonanzkörper, er entsteht in den Leser:innen, manchmal stimmt die Schwingung nicht überein, aber wenn es passt, wird ein Ton wahrnehmbar, und ab und zu, mit viel Glück, zerspringt auch etwas oder platzt.
 

Das Gespräch mit Anne Reinecke führte Franziska Adami

© by Diogenes Verlag AG Zürich

Hinter den Mauern der Ozean
Im Warenkorb
Download Bilddatei
Kaufen

Kaufen bei

  • amazon
  • bider und tanner
  • buchhaus.ch
  • ebook.de
  • genialokal.de
  • HEYN.at
  • hugendubel.de
  • kunfermann.ch
  • lchoice (nur DE/AT)
  • orellfuessli.ch
  • osiander.de
  • Schreiber Kirchgasse
  • thalia.at
  • thalia.de
  • tyrolia.at

Hinter den Mauern der Ozean

Die Welt ist im Wasser versunken. Der Stadtkern Berlins ist innerhalb einer gigantischen Mauer verschont geblieben. Fünf Menschen leben darin, fünf ›Ewige‹, die jeden Sommer den anreisenden ›Fremden‹ die alte Welt zeigen und ihr Wissen weitergeben. Im Winter sind sie sich selbst überlassen und leben und lieben in verschiedenen Konstellationen. Wird eine der zwei Frauen und drei Männer krank oder altert, verschwinden sie und ein Kind gleichen Namens und gleichen Aussehens kommt in die Stadt. Bis eine der ›Ewigen‹ diesen Zyklus durchbrechen will.

Hardcover Gebunden
240 Seiten
erschienen am 24. Juli 2024

978-3-257-07316-4
€ (D) 18.00 / sFr 24.00* / € (A) 18.50
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

Anne Reinecke wurde 1978 in Meißen geboren. 1984 siedelten ihre Eltern mit ihr nach Westdeutschland über. Seit Ende der 90er lebt sie in Berlin, wo sie Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur studierte und für verschiedene Theater-, Film- und Ausstellungsprojekte sowie als Stadtführerin gearbeitet hat. Ihr Debütroman Leinsee war nominiert für den Debütpreis der LitCologne und stand auf der Shortlist für das Lieblingsbuch der Unabhängigen (WUB).