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Eine Suche in der Vergangenheit – Leon de Winters neuer Roman ›Stadt der Hunde‹

Jaap Hollander findet keine Ruhe. In Leon de Winters neuem Roman Stadt der Hunde begibt sich ein Vater auf die Suche nach seiner Tochter und nach sich selbst. Jedes Jahr fährt der pensionierte Gehirnchirurg nach Israel in die Wüste Negev, denn dort ist seine Tochter mit 18 Jahren verschwunden. 

Lesen Sie den Anfang des Romans in unserer Leseprobe und fiebern Sie mit!

Leseprobe

Auszug, Seiten 9-17

Als der israelische Botschafter sie benachrichtigte, war bereits ein Tag vergangen. Genau genommen waren sogar schon zwei Tage verstrichen. Am ersten hatte seine Tochter noch nicht als vermisst gegolten, und niemand hatte Alarm geschlagen.
Am Morgen des zweiten Tages wurden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Rettungsdienste, Spürhunde und ein Hubschrauber durchkämmten die Negev-Wüste, wie er später erfuhr. Am Ende dieses Tages erhielt Jaap den Anruf der israelischen Botschaft. Im Lauf des Abends folgten weitere Telefonate mit genaueren Informationen. Die Botschaft organisierte Flugtickets. Am dritten Tag saßen Jaap und Nicole in der Business Class einer El-Al-Maschine nach Tel Aviv. Obwohl die breiten Armlehnen sie trennten, waren sich Jaap und Nicole für kurze Zeit näher als in den letzten Jahren ihrer verkümmerten Ehe. Sie schliefen schon seit geraumer Zeit in getrennten Schlafzimmern.

Nicole hatte auf seiner Station gearbeitet; sie war eine der attraktivsten Frauen dort gewesen, und Jaap schlief mit ihr, wie er es auch mit anderen Krankenschwestern tat. Als sie ihm eröffnete, dass sie von ihm schwanger war, war Jaap achtunddreißig, Nicole achtundzwanzig.
Zuerst war er sauer, weil sie die Pille vergessen hatte; dann vermutete er, dass sie es absichtlich getan hatte, denn er war der Hauptgewinn der Abteilung: ledig, schlank, Verführerblick, wenn er es darauf anlegte, und Geld wie Heu. Vielleicht, dachte er dann aber irgendwann, war es an der Zeit, Vater zu werden, und er sollte dies wie ein Naturgesetz akzeptieren, auch wenn er Nicole nie als Lebenspartnerin in Betracht gezogen hatte und es andere Krankenschwestern gab, die er für geeigneter gehalten hätte. In puncto Abtreibung dachte er konservativ, was Nicole wusste, und daher ließ ihm die Schwangerschaft keine Wahl.
Jaap kaufte für teures Geld eine Bruchbude an der Vecht und ließ sie abreißen. Auf dem Grundstück errichtete er eine Villa im Stil der Landhäuser des achtzehnten Jahrhunderts, aber zeitgemäß, mit einer modernen Küche und hinter dem Wohnzimmer, in dem sie nie saßen, einem kleinen Kino. Er hatte alles selbst entworfen. Lea war anderthalb, als sie einzogen.

Wie konnte man Jaap am besten beschreiben? In seinen besten Jahren hatte er Al Pacino geähnelt, nur in einer hochgewachseneren Version. So attraktiv war er. Diesen MachoLook hatte er seit seiner Jugend, aber dem Zahn der Zeit hielt er nicht stand. Je älter Jaap wurde, desto mehr schwebte Al von ihm weg. Nach dem Verschwinden seiner Tochter war nichts mehr von ihm übrig. Pacino und Glatze vertragen sich nicht.
Und Nicole? Wollte man sie mit einer Berühmtheit vergleichen, dann hätte man ihr im besten Licht, in den besten Tagen ihrer besten Jahre, also vor ihrer Heirat mit Jaap, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Sängerin Blondie bescheinigen können – breite Wangenknochen, blondes Haar, grüne Augen, die gleiche sinnliche Ausstrahlung. Doch die musste sich Nicole hart erarbeiten. Bevor sie das erste Mal mit Jaap ins Bett ging, hatte sie monatelang im Fitnessstudio geschwitzt und mit verschiedenen Schminktechniken, Frisuren und Kleidungsstilen an dem »Typ« gearbeitet, auf den er stand. »Der gehört mir«, hatte sie befreundete Kolleginnen wissen lassen.
Hatten Jaap und Nicole wirklich Ähnlichkeit mit diesen Promis? Auf der Station glaubte man es, und Nicole fühlte sich geschmeichelt.
»Alle finden, dass du wie Al Pacino aussiehst«, hatte sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft einmal bemerkt.
»Dieser hässliche Typ?«, hatte er geantwortet.
»Und ich, sehe ich immer noch aus wie Blondie?«, hatte Nicole gefragt.
»Niemand sieht so aus wie du«, hatte er geantwortet.
Nicole hatte nicht daran gezweifelt, dass er das im positiven Sinne gemeint hatte. Und sie hatte recht. Doch das sollte sich ändern.

Nach Leas Verschwinden – darüber später mehr – musste sich Jaap damit behelfen, unbekannte Menschen mit den Namen von Filmstars zu etikettieren; Jaap brauchte das als Gedächtnisstütze, um Gesichter und Namen behalten zu können. Er hatte ein absurd gutes Gedächtnis für fast alles, aber seit Lea fort war, konnte er sich Gesichter in Verbindung mit Namen nicht mehr einprägen. Der Vergleich mit Hollywoodstars half ihm. Er war ein großer Kinofan, und an Filmgesichter konnte er sich stets einwandfrei erinnern. Er ließ bei sich im Krankenhaus Hirnscans anfertigen, aber sie blieben ohne Befund: kein Alzheimer, kein Parkinson. Die Unfähigkeit, sich Namen und Gesichter zu merken, musste auf einer neurologischen Störung beruhen. Der medizinische Fachausdruck lautete Prosopagnosie. Er fand sich damit ab.

Mit der Zeit begann Nicole, Jaap auf die Nerven zu gehen. Die tragische Erkenntnis kam ihm eines Abends bei einer Dinnerparty mit einem befreundeten Paar, der Mann war ein Kollege von ihm an der Amsterdamer Universitätsklinik AMC. Es war ihre schrille Stimme, die in nichts an Blondie erinnerte und in der ein Tremolo lag, das er schon lange verabscheute, eigentlich von Anfang an; er hörte Ängstlichkeit, Unsicherheit, Unterwürfigkeit heraus, und er wusste, dass seine Gereiztheit nicht nachlassen würde.
Als sie sich noch nicht lange kannten und der Sex okay war, empfand er diese Stimme als erregend, weil Nicole dadurch den Eindruck erweckte, dass sie es genoss, wenn er sie mit Lust überfiel. Wenn kein Sex im Spiel war, ertrug er diese Stimme nicht.
Von diesem Abend an sah er in erster Linie ihre Schwächen, zumindest das, was er als Schwächen wahrnahm, und begann, sie zu verachten, obwohl er sich deswegen schuldig fühlte. Nicole war die Mutter seiner Tochter. Er sollte sie respektieren, sie lieben.
Solange sie nicht sprach und er ihre hysterisch hohe Stimme nicht hörte, war alles in Ordnung. Er nahm an, dass sie nicht wusste, dass er sie manchmal verabscheute. Dann wiederum wurde er von Mitleid überwältigt und kaufte ihr einen Ring oder eine Uhr, kostspieliges Zeug, das sie schätzte und mit dem sie vor Freundinnen und Bekannten angeben konnte. Er schob das Unvermeidliche vor sich her. Aber wie lange würde er es mit ihr aushalten?
Damals war eine Abtreibung für ihn nicht infrage gekommen. Er rettete Leben und brachte keinen Tod. Und das Leben begann für ihn mit der Empfängnis. Eine andere Denkweise war ihm nicht möglich. Später bedauerte er seine Geradlinigkeit; eine Abtreibung hätte diese Ehe verhindern können. Aber dann hätte es Lea nie gegeben. Ein Kind aus einer Ehe, die ein Fehler gewesen war.
Nicole war weder dumm noch unsensibel. Sie traute sich kaum, in seiner Gegenwart mehr als ein paar Worte zu sagen, egal zu welchem Thema. Sie fürchtete seine Wutausbrüche, bei denen er sie mit einem einzigen Wort demütigen konnte, besonders in Gesellschaft anderer. Jaap vermutete, dass Nicole wusste, dass er das manchmal absichtlich tat. Und ihm war klar, dass Nicole wusste, dass auch Lea das merkte. Er konnte nicht ausschließen, dass seine Gereiztheit Nicole in ein ängstliches, unsicheres Wesen verwandelt hatte, obwohl sie versuchte, ihre Unsicherheit zu verbergen. Oder war sie schon immer so gewesen, und es war ihm nicht aufgefallen, als sie sich kennengelernt hatten?
Lea wuchs zu einem stillen Teenager mit nervösem Blick heran, der Jaap an ihre Mutter erinnerte, und vermutlich erkannte seine Tochter die Abneigung, die er dabei empfand. Er schämte sich, dass er so über Lea dachte: O nein, hoffentlich wird sie nicht so wie ihre Mutter! Vielleicht war er einfach ein Mistkerl und Flegel und hätte unverheiratet bleiben sollen. Es war nicht gut, nicht richtig, und er machte sich Vorwürfe, wenn er allein war, etwa im Auto auf dem Weg zum amc, wohin er fuhr, um Menschen zu retten und wo er den Status eines Halbgottes innehatte. Und dann kamen diese Anrufe von der israelischen Botschaft.

Lea wollte zum Judentum konvertieren. Jaap war Jude, Nicole nicht. Jaap war das Kind von Eltern, die den Krieg im Versteck überlebt hatten, und nach der Befreiung – eine kuriose Bezeichnung für diejenigen, deren Familien ausgelöscht worden waren, sie hatten nie eine Befreiung erlebt – waren sie zwar traumatisiert, aber den alten Traditionen treu geblieben. Seit seinem siebten Lebensjahr hatte Jaap Hebräisch lernen müssen, und mit dreizehn Jahren hatte er seine Bar Mitzwa gefeiert, aber nach dem frühen Tod seines Vaters hatte er nie wieder einen Fuß in eine Synagoge gesetzt.
Ein paarmal hatte er Israel besucht. Er empfand weder Zu- noch Abneigung zu dem Land und dem, was die Juden dort machten. Auf Geschäftsreise hatte er dort auf Einladung von Kollegen, die sein Fachwissen bei schwierigen Operationen gut gebrauchen konnten, ausgefüllte und entspannte Tage verbracht. Bei jedem Besuch hatte er mit Barbara geschlafen (später, viel später, dachte er: Auch wenn er bei ihr keine Eselsbrücke brauchte, sie sah aus wie Penélope Cruz), einer schönen, jungen Neurochirurgin argentinischer Abstammung, die an seine Zimmertür im Sheraton in Tel Aviv geklopft hatte, weil sie, nachdem sie einen Nachmittag neben ihm in einem Konferenzraum gesessen hatte, nun Sex mit ihm wollte. Bei der Konferenz hatten sich ihre Arme absichtlich-unabsichtlich berührt, dann ihre Finger, und die Blicke, die sie austauschten, brachten ihn auf Gedanken, die er nicht hätte haben dürfen. Seine Ehe war zerrüttet, aber er war treu. Für ihn zählte ein gegebenes Wort. Aber sie war unwiderstehlich schön, und sie küsste ihn, noch bevor die Zimmertür ins Schloss gefallen war.
Später, als es kein Thema mehr war, bedauerte Jaap, dass er sich nicht sofort von Nicole getrennt hatte und nach Tel Aviv zurückgekehrt war, um Barbara aus der beschissenen Ehe mit ihrem manisch-depressiven Mann zu befreien – ein heldenhaftes Unterfangen. Er hatte die Möglichkeit vor Augen und hätte etwas daraus machen können, aber er hatte nichts unternommen. Der Sex mit ihr war der beste, den er je erlebt hatte, was dramatisch klang, aber der Wahrheit entsprach. Bei jedem Besuch verbrachten sie eine oder mehrere Nächte zusammen im Sheraton am Strand von Tel Aviv. Mit ihr fühlte er sich frei, alterslos und sogar fröhlich. Er hielt die Affäre vor Nicole geheim, und Barbara beschwor ihn, ihr Mann dürfe nichts erfahren.

Zehn Jahre nach Leas Geburt lebte er mit der Gewissheit, dass er eine katastrophale Ehe aufrechterhielt. Er hätte ein Leben mit Barbara führen können, aber er musste sich eingestehen, dass die Arbeit für ihn im Mittelpunkt stand – er war einer der besten Neurochirurgen der Welt –, und er ließ die Jahre verstreichen. Nach Leas Verschwinden verwandelte er sich in eine glatzköpfige, geschrumpfte Version von Al Pacino und konnte sich nicht vorstellen, dass Barbara für ihn die Hüllen fallen lassen würde. Jaap schämte sich für das, was er im Lauf der Jahre verloren hatte: das Haar, die Jugend, die Neugier. Regelmäßig dachte er an Barbara, und er fragte sich, ob sie auch an ihn dachte, befürchtete aber, dass sie es nicht tat.
Nicole, die aus einer katholischen Familie stammte, war genauso wenig gläubig wie er. Rätselhaft, wie es manchmal so geht: Mit dreizehn begann ihre stille Tochter, sich mit den Traditionen ihrer jüdischen Großeltern zu beschäftigen, die Jaap nichts bedeuteten. Lea las die Bücher Mose, vertiefte sich in die alte Geschichte und den Holocaust und meldete sich bei der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Amsterdam, wo sie in eine Gruppe junger Mädchen aufgenommen wurde, die als jüdisch anerkannt werden wollten. Sie alle hatten einen jüdischen Vater und waren damit sogenannte Vaterjuden, was für die Rabbiner aus irgendeinem Grund keine Bedeutung zu haben schien; sie stellten nur dann eine Bescheinigung über das Jüdischsein aus, wenn die Mutter Jüdin war. Lea aber wollte diese Bescheinigung unbedingt.
Sie hatte sich vorgenommen, nach ihrem Schulabschluss eine sogenannte Birthright-Reise nach Israel zu unternehmen, eine kostenlose Fahrt, durchgeführt von einer israelischen Organisation für junge Juden, Vaterjuden und Großvaterjuden, die auf der Suche nach ihren Wurzeln waren.Lea schaffte ihren Abschluss und machte sich auf den Weg. Dieser Drang seiner Tochter hatte Jaap befremdet, aber irgendwann hatte er sich damit abgefunden. Nach der Rundreise wolle sie noch ein bisschen länger in Israel bleiben, hatte sie ihrer Mutter erzählt. Nicole beriet sich mit Jaap, und er war einverstanden.
Zusammen mit einem jungen Amerikaner verschwand sie, löste sich in einer kalten Wüstennacht quasi in Luft auf. Lea war achtzehn, Joshua Pollock zwanzig.


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Stadt der Hunde

Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
Der renommierte niederländische Gehirnchirurg Jaap Hollander ist im Ruhestand, aber Ruhe findet er nicht. Seit seine Tochter zehn Jahre zuvor in Israel verschwunden ist, kehrt er jedes Jahr nach Tel Aviv und in die Wüste Negev zurück. Diesmal wird er dort unversehens gebeten, eine äußerst riskante Gehirnoperation durchzuführen. Er sagt zu, obwohl die Erfolgsaussichten verschwindend gering sind. Nicht nur das Leben seiner mächtigen Patientin hängt von der Operation ab, vielleicht eröffnet sie ihm sogar eine neue Spur zu seiner Tochter.
Mehr zum Inhalt

Jedes Jahr fährt der pensionierte Gehirnchirurg Jaap Hollander nach Israel in die Wüste Negev, denn dort ist seine Tochter mit 18 Jahren verschwunden. Alles deutete auf ein Verbrechen hin, aber es bleibt ungelöst, und Jaap kann die Hoffnung nicht aufgeben, dass Lea noch lebt. Zum zehnten Jahrestag steht Jaap jedoch plötzlich vor einer Herausforderung, die alles verändern könnte. Jaap nimmt sie an und hilft damit nicht nur einer anderen jungen Frau und einem ganzen Land, sondern auch sich selbst. Eine virtuose Parabel über Liebe, Verlust, Hoffnung und den verschlungenen Weg im Labyrinth des Lebens.


Hardcover Leinen
272 Seiten
erscheint am 22. Januar 2025

978-3-257-07281-5
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
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Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den Welt-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für Das Recht auf Rückkehr ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes Ein gutes Herz (2013) und Geronimo (2016).