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In schwindelnden Höhen. Donna Leon über ihre Freundin Joyce DiDonato

Joyce DiDonato ist eine einzigartige Opernsängerin, nicht nur dank ihrer schönen Stimme und makellosen Technik, sondern auch, weil sie ein soziales Gewissen hat. Ja, Sie haben richtig gehört: eine Opernsängerin mit sozialem Gewissen. Das klingt, als würde einer Modeschöpferin bescheinigt, dass sie eine Umweltschützerin ist – doch bei Vivienne Westwood stimmt dies ja auch.

Viele Menschen scheinen der Meinung zu sein, eine glänzende Karriere, die dünne Luft, die Opernsänger atmen, ließe ihre Anteilnahme verkümmern, und sie würden nicht länger das Bedürfnis verspüren, jenen zu helfen, die es weniger gut getroffen haben als sie. Aber warum? Sänger leben von klein auf in derselben Welt wie wir, sie sehen, was wir sehen, sie lesen die Zeitung und sind durch soziale Medien mit der Welt verbunden, ihnen kann nicht entgehen, dass es Reiche und Arme gibt und die Schere zwischen ihnen immer größer wird. Dennoch wird selten von ihrem Engagement in Initiativen berichtet, die sich dem Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit verschrieben haben.

Joyce DiDonato und ich kennen uns schon lange – gewiss, mehr als eine Generation liegt zwischen uns, aber wir sind beide in Mittelschichtsfamilien großgeworden, in einem Land, das heute nicht nur mit dem Aussterben des nordatlantischen Glattwals konfrontiert ist, sondern auch mit dem Verschwinden der Mittelschicht. Joyce ist in Kansas, im Herzen des Kontinents, in einer großen Familie aufgewachsen, wo sie dazu erzogen wurde, ein anständiges Leben zu führen, hart zu arbeiten und ihren Teil dazu beizutragen, dass die Welt ein wenig besser wird.

Dann kam der Gesang, der Erfolg und Ruhm und Ehre, doch ihren Wunsch, die Welt zu verbessern, hat sie sich bis in die schwindelnden Höhen des Diva-Daseins bewahrt. Mancher erfindet sich neu, wenn er berühmt wird, doch Joyce DiDonato hat nie vergessen und nie verleugnet, dass sie aus Prairie Village, Kansas, stammt, dass sie im Kirchenchor gesungen und während des Studiums als Kellnerin gearbeitet hat.

Neulich erzählte sie mir von einem Projekt, an dem sie beteiligt ist. Dabei geht es um alleinstehende Mütter im Teenageralter. Viele dieser Mädchen sind selbst Kinder von Teenagermüttern und haben in der Kindheit wenig oder gar keine Zuneigung erfahren. Mutterliebe mag uns als etwas ganz Natürliches erscheinen, doch offenbar ist sie einem nicht in die Wiege gelegt, sondern wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wen die eigene Mutter nie in den Arm genommen und geherzt hat, wer nicht mit jedem Blick, jedem Streicheln und jedem du-du-du das Gefühl bekommen hat, er sei das wunderbarste Wesen auf der Welt, der kommt gar nicht auf die Idee, all dies mit seinem eigenen Baby zu tun. Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist kein Geschenk der Natur, sie wird uns nicht über die Gene mitgegeben, sondern über unsere Erfahrungen. Das New Yorker Projekt versucht, den jungen Müttern und ihren Kindern über die Musik zu dieser Nähe zu verhelfen. Die Mütter sollten sich den Text für ein Wiegenlied ausdenken und die Melodie dazu summen oder singen. Diejenigen, deren Lieder am vielversprechendsten waren, durften dann gemeinsam mit einem Komponisten daran arbeiten, der die gesummten, gepfiffenen oder gesungenen Lieder in Noten verwandelte. Dann wählte eine Jury die drei besten Wiegenlieder aus. Und Joyce DiDonato – angetrieben von ihrem sozialen Gewissen – trug sie bei ihrem Konzert in der Carnegie Hall vor.

Auf ihre Bitte hin wurden die drei jungen Komponistinnen zu dem Konzert eingeladen, und nachdem DiDonato ihre Lieder vorgetragen hatte, sagte sie dem Publikum, die Komponistinnen seien anwesend, und bat diese, aufzustehen und sich zu verbeugen. Die Zuhörer klatschten lange und enthusiastisch. Eine der Komponistinnen war in Begleitung eines Aufsehers, der die Uniform der Strafanstalt von Rikers Island anhatte, wo sie wegen eines Verbrechens einsaß, nach dem Joyce DiDonato sich nicht genauer erkundigte. Man hatte dem Mädchen erlaubt, für das Konzert ein Kleid zu tragen. Nach der Aufführung fragte DiDonato die drei hinter der Bühne, ob sie es aufregend fänden, in der Carnegie Hall zu sein, die ihnen doch so fremd sein musste wie das Taj Mahal. Die Gefangene antwortete: »Jeder Ort ist aufregend. Dies ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich aus Harlem herauskomme.«

Schon vorher hatte sich Joyce DiDonato für Häftlinge eingesetzt. 2009 führte die Houston Opera Dead Man Walking von Jake Heggie auf, nach dem Buch von Schwester Helen Prejean. DiDonato spielte die Nonne, die sich mit dem zum Tode verurteilten Mörder Joseph de Rocher anfreundet, bis zu seiner Hinrichtung bei ihm bleibt und ihm versichert, er werde sterbend das Antlitz der Liebe erblicken. Für sie war das nicht irgendeine Rolle, sie gab vielmehr im Gesang ihrer Überzeugung Ausdruck, dass die Todesstrafe rundweg abzulehnen ist.

Nicht minder empört sie jegliche Geschlechterdiskriminierung. Erst vor kurzem trat sie im Stonewall Inn auf, jener legendären New Yorker Schwulenbar in der Cristopher Street, deren Gäste sich 1969 bei einer Razzia der Polizeigewalt widersetzten und damit die Schwulenbewegung einläuteten. Sie sang dort ›Didos Klage‹, jene Arie, in der Dido bittet, nach dem Tod nicht dem Vergessen anheim gegeben zu werden. »Wann immer jemandem Unrecht angetan wird, können wir nicht gleichgültig bleiben. Denn letztlich trifft es auch uns«, sagte sie zu ihrem Publikum.

Opern handeln von Leidenschaft, von Missverstandenen und Misshandelten, Schwachen, die sich nach einem besseren Leben sehnen oder nach Gerechtigkeit verlangen. Es geht um Frauen und Männer, die den falschen Menschen lieben oder nicht vom Richtigen geliebt werden, die das Verkehrte tun und falsche Entscheidungen treffen. So ist das Leben. Verstanden zu haben, dass das Leben kein Kinderspiel ist und viele Menschen Unrecht leiden, ist ein enormer Vorteil für Joyce DiDonato, die in ihren Rollen tagein, tagaus jene verkörpert, denen übel mitgespielt wird.

Und gleichzeitig ist es eine unabdingbare Voraussetzung für jeden, der sich tatkräftig dafür einsetzen möchte, den Unglücklichen das Leben ein wenig leichter zu machen. Meine Freundin Joyce verfolgt dieses Ziel, und dafür zolle ich ihr Anerkennung. Darüberhinaus stellt sie – und jetzt komme ich endlich dazu, von ihr als der großen Künstlerin zu reden, die sie ist – eine der besten und bewegendsten Sängerinnen dar, die ich in meinem Leben als Opernbesucherin jemals gehört habe.

Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Erstmals erschienen in: Festspielfreunde-Informationen, Salzburg, Dezember 2015.

 

Im neusten Roman von Donna Leon ermittelt Brunetti in den Kulissen der Oper: Endlich mein. Commissario Brunettis vierundzwanzigster Fall ist am 25.11.2015 erscheinen. Auch als E-Book und als Hörbuch, letzteres eingelesen von Joachim Schönfeld.

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