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Im Porträt: Meir Shalev und sein Roman “Zwei Bärinnen”

Von Maya Sela

Eine Geschichte, die mit dem Mord einer Schlange anfängt

Sieben Jahre nach seinem letzten Roman Der Junge und die Taube hat Shalev ein Buch über Rache und Männlichkeit geschrieben. Zum Erscheinen von Zwei Bärinnen erzählt er, zu welchen Gewalttaten er selbst fähig wäre, welchen Problemen der „neue Mann“ begegnet und warum er selbst gern auf die Rolle des politischen Predigers verzichtet.

Foto: Bastian Schweitzer / © Diogenes Verlag

Seit ich Meir Shalevs neues Buch fertiggelesen habe, sehe ich überall Schlangen. Und ich meine keine metaphorischen, sondern echte Schlangen, solche, von denen es in den Nachrichten heißt, jemand sei an ihrem Biss gestorben. Shalev sagt, jedes Jahr gebe es mehrere solche Fälle, wir würden sie einfach nicht wahrnehmen. So geschieht es auch Netta, dem Sohn von Ruta, der Erzählerin in seinem Roman Zwei Bärinnen.

Shalevs neues Buch unterscheidet sich sehr von seinen vorigen. Sein Stil bleibt unverwechselbar, aber in diesem Buch nimmt er besonders machtvolle Emotionen ins Visier, Wahnsinn und furchtbare Gewalt, die man so schnell nicht vergessen wird. Allerlei Tote gibt es, allerlei Morde: Eine wohlgeplante Blutrache; die Rache eines Psychopaten; vielleicht sogar eine Rache Gottes.

„War es Ihnen nicht zu grausam? Da kommen ja haufenweise Morde vor“, erkundigt sich Shalev, als wir uns in Tel Aviv treffen. Er räumt ein, dass das Buch anders ist als seine Vorgänger: „Von Anfang an habe ich gespürt, dass es anders ist, und das war angenehm und beängstigend zugleich, denn ich begab mich auf weniger vertrautes Terrain, sowohl in Bezug auf die Handlung als auch auf die Umgebung und die Gesellschaft, in der sie spielt.“

Er wollte eine Geschichte schreiben, in der echte Rache im Mittelpunkt steht. „Auch Ein russischer Roman, mein erstes Buch, schildert eine Rache“, sagt Shalev, „aber dort ist es eine ausgefeilte ideologische Rache, die Rache des Großvaters im Dorf. Eine Rache, die besagt: ‚Ihr wolltet zionistische Landwirtschaft, ich mache euch einen Friedhof‘ – der Ackerbau der Diaspora. Es geht um die Rache eines hebräischen Pioniers, und die ist ideologisch. Ich glaube, ich brannte darauf, Rache zu schildern, weil es ein sehr starkes, elementares Gefühl ist, das in jedem drinsteckt. Zum Glück leben die meisten von uns es nicht aus, aber der Drang ist da.“

Auch dies gehört zu Shalevs unergründlichem Charakter. Einerseits wirkt er, wenn er mit runder Brille und weißem Hut das Café betritt, wie der klassische Literat. Andererseits ist er ein Mann, der eigenhändig Ratten und Schlangen tötet, die gelegentlich in den Garten seines Hauses in der Jesreelebene eindringen. Er zeigt mir ein Foto, das ihn mit einer Viper in der Hand zeigt, der bisher letzten, die er auf seinem Grundstück erwischt hat. Die Schlange lebt noch, Shalev hält sie und lächelt in die Kamera. Der Kampf gegen die Schlange erfordert keine besonderen Hilfsmittel: „Ich gehe mit einem Gummischieber auf sie los. Eine Schlange töten ist ganz einfach. Sie lebend fangen ist eine andere Geschichte.“

Den grausigen Höhepunkt des Buches darf man nicht verraten, das ist ein Geheimnis, das langsam ans Licht kommt. An einem Punkt sagt Ruta Tavori, die Erzählerin, diese Art von Geschichten könne man nicht erfinden. Shalev gesteht, dass sich diese Geschichte tatsächlich zugetragen haben könnte. „Es ist eine Geschichte, die mir aus zwei verschiedenen Quellen zu Ohren gekommen ist. Ich weiß nicht, ob sie wahr ist, aber gehört habe ich sie.“

Vokalisierte Verpackungstexte

Sieben Jahre ist es her seit Shalevs letztem Roman Der Junge und die Taube. In dieser Zeit hat er allerdings sein Erinnerungsbuch Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger, das Sachbuch Aller Anfang – Die erste Liebe, das erste Lachen, der erste Traum und andere erste Male in der Bibel und drei Kinderbücher verfasst. Er sagt, er habe das neue Buch selber erst verdauen müssen, „als hätte ich es mir langsam eingegossen und bei jeder Schicht gewartet, bis sie sich gesetzt hatte. Es war tatsächlich eine besondere Erfahrung, denn manche Abschnitte ließen sich nur sehr schwer schreiben, und da war auch das Gefühl, dass ich ganz allein in unvertrautes Gelände aufbreche. Es gibt hier Elemente eines Thrillers, das war neu für mich, obwohl auch in früheren Büchern von mir Gewalt vorkam.“

Erst mit vierzig Jahren veröffentlichte Shalev, Jahrgang 1948, seinen ersten Roman, Ein russischer Roman, der ein großer Erfolg wurde. Danach schrieb er Esaus Kuss, Judiths Liebe, Im Haus der Großen Frau, Fontanelle und Der Junge und die Taube. Zwischendurch verfasste er Kinderbücher, die in Israel Klassiker wurden, und zwei Bücher über die Bibel: Der Sündenfall – ein Glücksfall? und Aller Anfang. Außerdem schreibt Shalev eine wöchentliche Kolumne in der Tageszeitung Yedioth Ahronoth.

Das neue Buch hat er seinem Lektor Abraham Yavin gewidmet. „Er ist der Mann, der alle meine Bücher lektoriert hat, schon seit Ein russischer Roman“, erzählt er. „Wir sind längst enge Freunde geworden. Und auch als funktionales Team von Schriftsteller und Lektor sind wir ein sehr gutes Paar. Wir fechten keine Ego-Kämpfe aus. Ich habe nicht das Gefühl, ich hätte die Zehn Gebote neu geschrieben, auch nicht die Odyssee, er hat nicht das Gefühl, einen jungen Schriftsteller in seine Schranken weisen zu müssen. Sein Geist ist messerscharf. Ein Lektor muss klug sein, mit langer Leseerfahrung, ein alter Hase, begabt mit phänomenalem Gedächtnis und Bosheit. Abraham schneidet nach all diesen Parametern bestens ab.“ Yavin ist ein legendärer Lektor, dessen sichere Hand heute nur noch drei Schriftstellern zugutekommt: Jehoschua Kenaz, Chaim Be’er und Meir Shalev. Über seine langjährige Treue zu seinem israelischen Verlag Am Oved sagt Shalev: „Für mich bedeutet Am Oved Abraham Yavin, und ich finde es auch schön, bei dem Verlag zu sein, der schon die Bücher meines Vater herausgebracht hat.“

Nicht nur unterscheidet sich das neue Buch stark von seinen Vorgängern, auch Shalevs Privatleben hat im letzten Jahr eine scharfe Wendung genommen. Er und seine langjährige Ehefrau haben sich getrennt. Heute lebt er mit seiner um neunzehn Jahre jüngeren Partnerin Ayelet Sade zusammen. Sade ist Graphik-Designerin und Inhaberin eines Branding- und Design-Studios in Ramat Hasharon. „Sie entwirft hauptsächlich Verpackungen“, sagt Shalev. Wann immer darauf mit Vokalzeichen versehene Wörter vorkommen, ist das mein Beitrag. Ich setze die diakritischen Zeichen für die Vokale auf die Verpackungen. Eines der wenigen Dinge, die ich wirklich gut kann, ist Vokalisieren.“

Und er hat auch ein Hobby: „Wildblumen sind mein Hobby, seit etwa zehn Jahren. Ich sammle Samen von Wildblumen.“ Außerdem macht er jedes Jahr zehn Liter Limoncello von dem Zitronenbaum in seinem Garten. Sein Limoncello sei besser als der von Dovik, einer der Figuren im Buch, behauptet Shalev. „Und das weiß der auch“, fügt er hinzu.

Begegnung mit einer Motte

Shalevs Roman handelt von Rache und Männlichkeit, von Männerfreundschaft, von Männern, die einer Frau den Hof machen, sie zum Lachen bringen können, die in der Wüste navigieren, einem Freund helfen, ein Feuer anzünden und einen Feind töten können. Er sagt, es sei ihm wichtig gewesen, das Thema Männerfreundschaft zu behandeln. „Im letzten Jahr starb ein sehr guter Freund von mir, der Kardiologe und Restaurantkritiker Dr. Eli Landau, und ein anderer guter Freund, Gadi Giladi, lebt im Ausland. Während der Arbeit an dem Buch war dieses Thema aktuell für mich. Außerdem hatte ich im letzten Jahr, wegen der Trennung in der Familie, die segensreiche Gelegenheit herauszufinden, wer meine wahren Freunde sind und welche diesen Namen nicht verdienen. Es ist ein wenig anders als bei Freundschaften unter Frauen, die von Natur aus leichter dazu neigen, freundschaftliche Bindungen einzugehen, einander offen und vertrauensvoll entgegenzutreten. Bei Männern braucht das seine Zeit, vielleicht, weil es immer auch um Konkurrenz und Revierabgrenzung geht. In gewisser Hinsicht wollte ich wohl auch eine männliche Geschichte schreiben. In meinen vorigen Büchern erzählten Männer Geschichten, manche von ihnen romantisch, und jetzt habe ich eine Erzählerin, die eine sehr männliche Geschichte über die Männer ihrer Familie erzählt. Sie ist die siebte unter meinen Erzählern bis heute, und sie ist mir von allen am ähnlichsten.“

Die meisten Männer im Buch gehören nicht zur Spezies des „neuen Mannes“, und die Erzählerin Ruta spottet über die ganze Idee von Gender-Studien.

„Es ist ein Roman in der ersten Person, und ich habe nicht alles zu verantworten, was sie sagt. Sie hat ihre spöttischen Ansichten, sie mag das hebräische Wort Migdar für Gender nicht, und darin stimme ich mit ihr überein, denn ich meine, man hat das Wort Migdar erfunden, damit es phonetisch dem Wort Gender ähnelt, aber Gender hat eine Etymologie, die es mit Geschlechtlichkeit verbindet, und Migdar hat das nicht. Migdar bedeutet eigentlich eine abgegrenzte Gruppe, und das beschwört das Bild eines Zauns [GaDeR] herauf, in den Frauen sich pferchen … Der Wortstamm G.D.R. gefällt mir nicht. Man wollte ein Wort aus dem Englischen übernehmen und sich international geben, insoweit teile ich Rutas Spott. Ich mag es, wenn eine Frau auch gewisse männliche Seiten hat. Aber ich mag keine Verallgemeinerungen, ich lege Wert auf das Individuum. Wenn ich einen bestimmten Mann beschreibe, tue ich damit nicht meine Meinung über alle Männer kund, wenn ich eine bestimmte Frau beschreibe, dann schildere ich sie, befasse mich mit ihr, äußere meine Meinung nur über sie. Tausend Frauen können ihr ähnlich sein und tausend Frauen völlig anders.“

Was für eine Frau ist Ruta Tavori?

„Sie gehört nicht zu denen, die man Girls nennt, und auch nicht zu den sogenannten Weibern. Sie hat ihre eigene Meinung, und vor allem hat sie keine Angst. Sie ist ein Typ, der frei herausredet, ein offener und unabhängiger Mensch. Ich habe viel Zeit gebraucht, um ihren Sprachstil zu formen, denn einerseits muss sie umgangssprachlich übliche Fehler machen, und andererseits gibt es Fehler, die eine Bibelkundelehrerin am Gymnasium nie machen würde. Deshalb liebe ich den Titel Zwei Bärinnen, im Hebräischen lautet er Schtaim Dubim. Darin ist ein Fehler: Die Zahl zwei ist weiblich, das Substantiv männlich. Aber so steht es in der Bibel, und dann ist es in Ordnung. Die Bibel ist voll von Fehlern im Hebräischen.“

Der Titel Schtaim Dubim stammt aus dem 2. Buch der Könige, aus der Geschichte des Propheten Elischa. „Da gibt es Kinder, die von bösen Tieren getötet werden wie in meinem Buch“, sagt Shalev. „Auch dort ist nicht klar, warum Gott das tut. Der Prophet Elischa ging von Jericho hinauf nach Bet-El. Als er Bet-El passierte, kamen Kinder aus der Stadt und verspotteten ihn wegen seiner Glatze. Sie riefen ihm zu: ‚Kahlkopf, komm herauf, Kahlkopf, komm herauf‘. Da verfluchte er sie in Gottes Namen. Das heißt, er fluchte nicht einfach wie einer von uns, er nutzte die Macht, die er als Prophet Gottes besaß. Wenn ein Prophet flucht, dann passiert etwas. Der Bibel zufolge kamen zwei Bären aus dem Wald und zerrissen 42 Kinder. Was ist hier los? Wie konnte Gott das zulassen? Elischa ist ein Prophet, den ich hasse.“

Warum?

„Der Prophet Elija war weit grausamer und fanatischer als Elischa, Elija tötete eigenhändig 450 Baalspropheten am Kischon, aber seine religiöse Gewalt richtete sich allein gegen den Götzendienst und gegen das politische und götzendienerische Establishment seiner Zeit. In seinem Privatleben hatte er nichts Gewalttätiges an sich. Er fährt im Wirbelsturm zum Himmel empor und vererbt seinem Schüler Elischa seine magischen Kräfte, und der tut an seinem ersten Tag als Prophet zweierlei. Er macht das ungesunde Wasser der Quelle von Jericho, die der Stadt Leben spendet, wieder trinkbar, und er tötet 42 Kinder, die ihn wegen seines kahlen Schädels ausgelacht haben. Das heißt, der Mann hat als Prophet kein Berufsethos, er versteht nicht, dass diese Kräfte für ideologische, nicht persönliche Einsätze gedacht sind. Die traditionelle Bibel-Exegese tut sich sehr schwer mit dieser Geschichte. Ihre Vertreter erklären, sie sei überhaupt nie geschehen, und daher haben wir im Hebräischen den Ausdruck ‚keine Bären und keinen Wald‘ für eine Sache oder Geschichte, die nie und nimmer gewesen ist. Einige sagen sogar, diese Kinder seien keine Juden gewesen, oder ihre Mütter hätten sie am Jom Kippur empfangen, sodass sie es verdient hätten.“

Ruta Tavori, der Bibelkundelehrerin, ist etwas Ähnliches zugestoßen.

„Der grausame, brutale Akt, dass ein gefährliches Tier ein Kind tötet, ist auch ihr passiert, und sie will wissen, was dahinter steht. Sie sagt zu Gott: Die Zeiten, in denen hier Bären und Löwen herumliefen, sind vorbei, was setzt du jetzt deine ältesten Tricks gegen mich ein? Was soll das mit der Schlange? Was kommt denn noch? Wirst du große Steine vom Himmel auf mich niederwerfen? Ruta ist eine völlig weltliche Frau, und das sind keine Glaubensgespräche, sondern so etwas wie die Reden Hiobs, der verstehen möchte, was geschehen ist. In Elischas Geschichte steckt so viel Grausamkeit und Willkür, dass ich dachte, Ruta als Bibelkundelehrerin würde darin etwas erkennen.“

Shalev sagt, der Schlangenbiss sei nicht der einzige Punkt, an dem das Buch an die Grundlagen der menschlichen Existenz auf Erden zurückkehre: „Es gibt in dem Buch die Figur eines Steinzeitmenschen, der eine sehr präsente Rolle spielt. Und es gibt darin auch eine tiefe, unbedingte Freundschaft zwischen Männern. Etan und Rutas Großvater wären in keinem Tel Aviver Café gern gesehen. Der Großvater ist ein schrecklicher Mann, aber ich kann verstehen, warum seine Enkel ihn lieben, denn er ist ein echter Mensch. Genau wie ich mir sicher bin, dass in Don Corleones Familie alle den alten Vito liebten, obwohl sie wussten, womit er sich beschäftigte.“

Sie sagen, Männer und Frauen hätten sich heutzutage von etwas Grundlegendem in ihrer Natur entfernt, von dem man, Ihrem Buch zufolge, nicht wegkommt, nicht wirklich.

„Die Dinge sind vielschichtig, man kann nicht von allen Männern verlangen, sich den neuen Normen anzupassen. Aber in meinem Buch gibt es keinen einzigen Mann, der eine Vergewaltigung oder einen Akt sexueller Belästigung begeht.“ Während Shalev das völlig unbewegt sagt, erledigt er eine Motte, die in unseren Bereich eingedrungen ist. Mit flacher Hand klatscht er den Störenfried an die Wand. Das ist der richtige Augenblick, ihm seine Erzählerin zu zitieren, die behauptet, es gäbe Männer, die gelegentlich irgendetwas umbringen müssten, und manchmal sogar jemanden. Sonst würden sie schlichtweg verrückt.

„Ruta denkt das aus der Erfahrung mit ihrer Familie heraus“, sagt er. „Ihr Bruder fantasiert von Heldentaten, die er nicht vollbringt, und ihr Mann, der ein ausgebildeter Scharfschütze, aber kein Sadist ist, tut das, was seine Moral ihm aufgibt, er übt Blutrache. Und dann ist da ihr Großvater, ein Psychopath. Aber das kann man nicht verallgemeinern, von allen Männern sagen. Ich beispielsweise bin kein Psychopath, doch ich wäre fähig, Blutrache zu üben, und ich kenne auch Frauen, die gern jemanden zur Strecke bringen würden. Ich selbst habe diese beiden Seiten in mir. Wie Ruta, die sich als Frau und als Mann fühlt, fühle ich mich auch häufig. Ebenso habe ich einerseits eine angeborene Abscheu vor groben Menschen, andererseits mag ich aber auch diese apologetischen Männer nicht, die unter dem jetzigen gesellschaftlichen Druck den Kopf einziehen. Ich beuge mich nicht gern einer herrschenden Ideologe, egal ob es sich dabei um Kommunismus, Faschismus, Gender, politische Korrektheit, Religion oder Vegetarismus handelt.“

Er sagt, er versuche stets, sich in die geschilderten Situationen hineinzuversetzen. „Wie Etan Blutrache zu verüben, könnte ich mir durchaus vorstellen. Das Einzige, was mich von solch einer Tat abhalten würde, ist die Angst vor dem Gesetz, nicht die Moral. Deshalb bin ich ein Anhänger von Recht und Ordnung, denn wenn sogar Menschen wie ich mit dem Gedanken spielen, jemanden umzubringen, dann braucht man eindeutig Polizei und Gerichte. Das dritte furchtbare Verbrechen allerdings, das im Buch geschildert wird – ich will jetzt nicht verraten, was es ist – könnte ich nie begehen, in keiner Situation.“

Im Kontrast zu alldem enthält das Buch auch Kindergeschichten, die Ruta für ihren toten Sohn Netta schreibt. Shalev-Kindergeschichten, die gar nicht übel sind. „Ja, die Leute von meinem Verlag Am Oved haben gesagt, ich hätte in diesem Buch drei Kinderbücher verschleudert“, erklärt er. Er schreibe gern für Kinder, denn sie seien die ehrlichste Leserschaft. Wenn er Kindern eine Geschichte vorlese, ständen sie einfach auf und gingen, wenn das Buch ihnen nicht gefalle.

Heuchelei und Lügengeschichten

Obwohl Shalev einer der erfolgreichsten Schriftsteller Israels ist, wird sein Name nicht in einem Atemzug mit den drei Tenören genannt – Amos Oz, Abraham B. Jehoschua, David Grossman. Vielleicht hat das mit dem Umstand zu tun, dass er politisch angehauchte Literatur nicht mag und dieses Feld auch nicht beackert, weder daheim noch in aller Welt (seine Bücher sind in 26 Sprachen übersetzt).

Er ist politischer Literatur gegenüber misstrauisch: „Was passiert dabei eigentlich? Förderst du deine Politik mit literarischen oder deine Literatur mit politischen Mitteln?“ Er sagt, er habe sich bewusst dagegen entschieden, ein politisches Sprachrohr zu sein. „Ich bin froh, da nicht mitzumischen. Das beruht auf einer natürlichen Neigung und auch auf einer bewussten Entscheidung. In einem bestimmten Stadium habe ich beschlossen, mich davon abzukoppeln. Kurze Zeit habe ich mal mitgemacht, bin dabei aber auf Heuchelei gestoßen, die mir nicht gefiel. Ich beschloss dann, mich meiner Kunst zu widmen, und ich habe eine Kolumne in der Yedioth Ahranoth, wo ich meine Meinung schreiben kann.“

Sie verzichten auf die Stellung des Predigers und Propheten.

„Wissentlich, bewusst und erleichtert. Wenn ich im Ausland bin und man mir politische Fragen stellt, äußere ich meine Meinung, aber ich fange nie selbst davon an. Manchmal bitte ich nach ein paar Fragen, zum Buch zurückzukehren. In literarischer Hinsicht sehe ich keinerlei Problem mit meiner Stellung in Israel und in anderen Ländern. Meine Ansichten sind klar und bekannt. Ab und zu, vor allem, wenn ein paar Schriftsteller zusammensitzen, komme ich in Situationen, die mir zuwider sind. Etwa mit Menschen, die in Israel das eine sagen und im Ausland etwas anderes.“

In Belgien zitierte ein Journalist ihm Sätze aus seinen Artikeln und sagte, er, Shalev, sei also ein anti-zionistischer Schriftsteller. „Die denken, jeder der die Politik der Regierung ablehnt, ist ein Anti-Zionist. Ein anderer Journalist fragte mich, ob die Figur meiner Großmutter, der zionistischen Pionierin in Palästina mit dem Staubsauger in der Hand, für die ethnische Säuberung stehe, die wir an den Palästinensern begangen hätten. Ich antwortete ihm, er habe vergessen zu erwähnen, dass es ein amerikanischer Staubsauger ist und wir auch als Handlanger des amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten fungieren. Ich habe mit der Zeit herausgefunden, dass es einen Menschen gibt, der mich leider niemals in Ruhe und allein lassen wird, und dieser Mensch bin ich selbst. Mit mir muss ich in Frieden leben, deshalb folge ich meinem Wesen – was mir manchmal schadet – und meiner inneren Integrität. Und das fällt uns Schriftstellern schwer, schließlich verdienen wir unseren Lebensunterhalt mit Lügengeschichten.“

Erschienen in Haaretz, 5.7.2013. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.