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Bewegende Zeilen aus Dror Mishanis Kriegstagebuch ›Fenster ohne Aussicht‹

Der israelische Schriftsteller Dror Mishani lebt in Tel Aviv und ist bekannt für seine erfolgreichen Kriminalromane. Als die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel angreifen, befindet er sich gerade in Frankreich, seine Familie ist vor Ort in Tel Aviv. Dror Mishani setzt alles daran, zurückzukehren und beginnt, ein persönliches Kriegstagebuch zu führen, in dem er die erschütternden Geschehnisse und Auswirkungen des Gaza-Kriegs auf den Alltag seiner Familie und den der israelischen Bevölkerung festhält. Er betont, dass das Leid auf beiden Seiten aufhören muss.

Die ersten Seiten des bewegenden Kriegstagebuchs Fenster ohne Aussicht lesen Sie hier. 

Bei Erscheinen des Tagebuchs schrieb der Autor auf Instagram: »Mit dem Schreiben habe ich am 7. Oktober begonnen und einer der ersten Sätze, die ich schrieb, war: ›Der Krieg ist ausgebrochen‹. Wer hätte gedacht, dass er noch immer wütet, wenn das Buch herauskommt, fast 10 Monate später.«
Zum Originalpost von Dror Mishani

Foto: Lukas Lienhard / © Diogenes Verlag

Leseprobe

Teil I - Schock und Mobilisierung
(7.10. - 14.10.2023)

La grande guerre a commencé. Samstag, sechs Uhr morgens. Ich wache im Hotel in Toulouse auf und sehe, es ist eine Nachricht von Martha gekommen: »Guten Morgen. Hier geht’s drunter und drüber, aber so richtig.« In diesem Moment, ehe wir telefonieren, bin ich sicher, bei uns zu Hause ist irgendetwas passiert. Etwas, das nur uns betrifft. Vielleicht ist die Waschmaschine schon wieder kaputt und hat die Wohnung unter Wasser gesetzt. Vielleicht ist eines der Kinder krank. Als ich Martha anrufe, erzählt sie mir, sie seien vom Luftalarm geweckt worden und säßen jetzt im Schutzraum. Aus Gaza kämen sehr viele Raketen.
In Toulouse ist es noch dunkel. Ich stehe langsam auf, putze die Zähne. Noch habe ich den Plan nicht abgeschrieben, zu einer morgendlichen Joggingrunde am Ufer der Garonne aufzubrechen, vor einem langen Tag und unzähligen Lesungen und Veranstaltungen auf dem Krimifestival, das der Grund meiner Reise ist. Aus Gaza werden immer mal wieder Raketen auf Tel Aviv abgefeuert, bestimmt alle paar Monate. Und meine Frau Martha ist es, obwohl nicht Israelin, schon gewohnt, mit den Kindern in den Luftschutzraum zu gehen. Außerdem gibt es noch den Iron Dome, der Tel Aviv schützt und die Raketen in aller Regel am Himmel abfängt.
Erst als ich den Computer anschalte und auf israelische Nachrichtenseiten gehe, fange ich an zu verstehen, dass diesmal etwas anderes los ist. Ein Video wird wieder und wieder ausgestrahlt, weil Fernsehsender und Nachrichtenportale noch kaum Informationen haben über das, was sich im Süden des Landes abspielt. In dem Video sieht man einen weißen Pick-up mit Hamas-Kämpfern, die Uniformen tragen, denen der israelischen Armee nicht unähnlich. Der Pick-up hält mitten in der Stadt Sderot, vor der Polizeistation, die Bewaffneten springen herunter und schießen in alle Richtungen. Niemand erwidert das Feuer. Ein Privatwagen gerät in die Straße und kommt neben dem Pick-up zum Stehen. Einer der Bewaffneten tritt zu dem Wagen und richtet den Fahrer hinter dem Steuer hin.
Nach und nach kursieren weitere Videos. Einige sind von Israelis aufgenommen, von Balkonen aus oder durch die Sonnenblenden vor den Fenstern ihrer Wohnungen, andere von den Terroristen selbst. Man sieht Männer in Uniform – teilweise auf weißen Pick-ups, teilweise auf Motorrädern oder zu Fuß – , die den Grenzzaun des Gazastreifens durchbrechen und ungehindert nach Israel eindringen. Sie tragen Maschinengewehre, Granatwerfer und Munitionsgurte. Laufen durch die Straßen israelischer Ortschaften – und schießen wahllos um sich.
Reporterinnen und Moderatoren in den Studios verstehen nicht, was gerade geschieht. Hunderte von Raketen gehen weiterhin überall im Land nieder. Wo ist die Armee? Gerüchte machen die Runde, Terroristen seien in Kibbuzim eingedrungen und hätten Armeestützpunkte unter ihre Kontrolle gebracht. Einwohner aus dem Süden rufen bei Fernsehsendern an, werden live zugeschaltet und berichten flüsternd, sie seien in Schutzräumen gefangen, hörten vor dem geschlossenen Fenster Stimmen auf Arabisch – und Schüsse. Erst im Nachhinein werden wir begreifen, dass wir Zeugen eines Massenmords an Zivilisten werden, live übertragen. »Kommt und holt uns hier raus«, ruft eine Frau weinend. »Warum kommen keine Soldaten, um uns zu retten?« Aus dem Schutzraum, in dem sie sich mit ihren Kindern versteckt hält, hört sie, wie Terroristen in ihr Haus eindringen, es durchsuchen, sich der Schutztür nähern, die Klinke niederdrücken und versuchen, die Tür aufzuschießen. Niemand kommt ihr zu Hilfe. Ich schicke eine kurze Nachricht an Marie-Caroline Aubert, meine Freundin und Lektorin beim französischen Verlag Gallimard, um sie zu warnen, dass ich meine Reise womöglich abkürzen muss. Schreibe: Merde. La grande guerre a commencé.

Fenster ohne Aussicht
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Fenster ohne Aussicht

Tagebuch aus Tel Aviv
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist auch für den Schriftsteller Dror Mishani mit einem Schlag alles anders. Zwischen Luftalarm, Diskussionen mit den Teenagerkindern am Küchentisch, Freiwilligenarbeit auf Salatfeldern und dem Versuch, auch in Kriegszeiten Alltag zu leben und zu schreiben, hält Dror Mishani fest, wie der Gaza-Krieg die israelische Gesellschaft und seine Familie verändert – und hält daran fest, dass das Leid auf beiden Seiten aufhören muss.

Hardcover Leinen
224 Seiten
erschienen am 24. Juli 2024

978-3-257-07308-9
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

Zurück nach Hause? Um zehn, als ich beim Veranstaltungszelt des Literaturfestivals eintreffe, ist mir bereits klar, dass ich meinen Rückflug nach Tel Aviv, der übermorgen von Paris gehen soll, vorverlegen muss. Immer mehr Raketen fliegen in Richtung Tel Aviv, und Martha und die Kinder sind nach wie vor im Schutzraum. Ich habe ein schlechtes Gewissen – die Organisatoren des Festivals haben mein Flugticket und Hotel bezahlt, und jetzt bitte ich noch vor der ersten Lesung darum, früher abzureisen. Deshalb wohl bausche ich das Ausmaß der Attacke auf, als ich ihnen die Lage schildere. (Auf den französischen Nachrichtenseiten fangen sie gerade erst an, darüber zu berichten.)
Es habe Dutzende von Toten gegeben, man spreche bereits von unserem 9 / 11, und die Antwort der Armee werde nicht auf sich warten lassen und massiv
ausfallen. Ein Krieg stehe unmittelbar bevor. Innerlich aber glaube ich noch gar nicht recht, was ich da erzähle. Auch wenn ich Marie-Caroline etwas vom »grossen krieg« geschrieben habe. Ich habe das Gefühl, zu flunkern oder zu übertreiben, vielleicht, weil ich in jenen Stunden die Dimension des Mordens und den Abgrund der Katastrophe, in die es uns stürzen wird, nicht wahrhaben will. Vielleicht ist es trotz allem nur ein Anschlag mehr, auf den unsere Luftwaffe mit Bomben auf Ziele im Gazastreifen reagieren wird – und das war’s? Aber jedes Mal, wenn ich auf eine der israelischen Nachrichtenseiten gehe, stelle ich fest: Ich habe den Festival-Leuten nicht nur nichts vorgemacht, die Lage ist viel schlimmer, als ich sie ihnen – und mir selbst – geschildert habe. Die Raketen waren nur ein Ablenkungsmanöver, unterdessen dringen Terroristen weiter in Ortschaften und Städte im Süden des Landes ein und bringen wahllos Zivilisten um. Unweit der Grenze zum Gazastreifen hat ein großes Open-Air-Musikfestival stattgefunden, die Terroristen richten ein Massaker unter den Scharen von Feiernden an, die versuchen, um ihr Leben zu fliehen. Die Armee ist noch immer nicht auf der Bildfläche erschienen, es sind vor allem Polizisten oder Privatpersonen, die gegen die Hamas-Männer kämpfen, mit Pistolen oder Messern oder auch nur
mit bloßen Händen. 
Ich sitze derweil noch immer am Stadtrand von Toulouse in einem Veranstaltungszelt, hinter einem Tisch, auf dem meine Bücher in Stapeln liegen. Signiere sie für Leserinnen und Leser, die eines davon kaufen, antworte freimütig jedem, der mit mir über Kriminalliteratur sprechen möchte. Alle paar Minuten verdrücke ich mich in die Raucherecke, um die Nachrichten zu checken und zu erfahren, ob die Organisatoren des Festivals einen früheren Flug nach Tel Aviv für mich gefunden haben. Sie buchen Flüge bei jeder nur möglichen Airline. Und alle werden innerhalb kürzester Zeit annulliert. 
Als ich S. anrufe, eine gute Freundin, um zu hören, wie es ihr geht, erzählt sie mir, sie sei verzweifelt auf der Suche nach Flugtickets, um mit ihrer Familie das Land zu verlassen, egal wohin, und dass es keine Tickets mehr gebe, alle seien innerhalb von Minuten ausverkauft gewesen. Zum ersten Mal denke ich, dass es vielleicht ein Fehler ist zurückzufliegen. Ich könnte ebenso gut in Frankreich bleiben, und Martha und die Kinder fliegen her. Oder sie könnten versuchen, Flugtickets nach London zu kriegen, und zu Marthas Eltern fahren, und ich würde dann den Zug nehmen und sie dort treffen. Wenn der Abgrund der Katastrophe, in den wir stürzen, so bodenlos ist, muss ich sie und die Kinder dann nicht dort herausholen?
Ich rufe Martha an und bitte sie, im Schlafzimmer mit mir zu reden, damit die Kinder unser Gespräch nicht mithören. Ich frage, wie es ihr geht. Sie und unsere Tochter Sarah kleben seit dem Morgen im Schutzraum vor dem Fernseher, und die Bilder seien grauenerregend. Sarah ist auch in den sozialen Netzwerken unterwegs und sieht dort offenbar veritable Horrorvideos. Sie halte vor Martha verborgen, was sie dort sieht: Menschen, die live und vor laufender Kamera hingerichtet werden. Leichen, die in Brand gesteckt werden. Es heißt, es gäbe auch Videoaufnahmen von brutalsten Vergewaltigungen.
»Willst du mit den Kindern hierherkommen?«, frage ich und hoffe, sie nicht zu sehr in Panik zu versetzen.
»Meinst du, wir sollten?«
»Ich weiß nicht.«
Ich weiß es nicht. Was ich befürchte, will ich nicht aussprechen.

Auszug aus: Dror Mishani, Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv. Erschienen am 24. Juli 2024. S. 9-15.