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100. Geburtstag von Françoise Gilot

Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag, Françoise Gilot!

Rebellin, Muse, Malerin. Für Pablo Picasso blieb sie ein Rätsel, und sie war die einzige Frau, die ihn verließ. Françoise Gilot, 1921 in Neuilly-sur-Seine geboren und Mutter von Paloma und Claude Picasso, feiert am heutigen 26.11.2021 ihren 100. Geburtstag. Françoise Gilots Bilder werden in Museen auf der ganzen Welt gezeigt (Museum of Modern Art, Musée Picasso in Antibes, Musée d’Art Moderne in Paris u. a.). Sie lebt und arbeitet abwechselnd in New York und Paris.Wir gratulieren Françoise Gilot ganz herzlich zu diesem besonderen Jubiläum!

Als sie 90 Jahre alt war, öffnete die Künstlerin dem Journalisten Malte Herwig die Türen ihrer Ateliers in New York City und Paris und sprach mit ihm über zentrale Fragen des Lebens: Worauf kommt es wirklich an? Daraus entstand ein Buch über die Kunst. Und über die Kunst eines erfüllten Lebens. Malte Herwigs Buch Françoise Gilot – Die Frau, die Nein sagt. Ihr Leben mit und ohne Picasso ist nun anlässlich des 100. Geburtstags bei Diogenes als Taschenbuch erschienen. Lesen Sie hier, wie Malte Herwig Françoise Gilot das erste Mal begegnet ist.

 

 

Foto: © Ana Lessing

Nordlicht

»Ich persönlich stelle beim Malen meine Vernunft
lieber in den Dienst der Verrücktheit und
nicht umgekehrt.«
Françoise Gilot, Monograph 1940 – 2000

Vor wenigen Jahren erst habe ich sie das erste Mal getroffen. Es war in Paris, im Mai. Die Bordsteinmaler standen auf der Place du Tertre in Montmartre und zeichneten japanische Touristen. Viel war nicht geblieben vom Ruhm und Ruch des Künstlerviertels, in dem einmal Renoir und van Gogh lebten und Picasso sein Atelier hatte. Aber noch war diese Welt lebendig, hatte ich gehört, man musste nur wissen, wo. Wenige Straßen weiter arbeitete in einem lichtdurchfluteten Atelier die berühmteste Überlebende der Kunstgeschichte. Ich klingelte an der Pforte des alten Gebäudes und wurde eingelassen. Da stand sie vor mir: kleines rotes Kleid, kurzer Pagenkopf, über den wachen Augen hoben und senkten sich die legendären Zirkumflex-Brauen, von denen einst Henri Matisse schwärmte: die Malerin Françoise Gilot. Damals war sie 90 und schien mir doch halb so alt zu sein. Sie sprang auf, lachte, ging umher. Gemessen an der zierlichen Figur sind ihre Hände kräftig, dachte ich. Malen ist Arbeit, und sie malte immer noch jeden Tag. »Wenn du malst, musst du schnell sein. Selbst wenn es nicht besonders gut wird, ist es immer noch besser, als wenn du langsam bist. Du musst die Energie deiner ganzen Existenz in das Bild bringen.« Vor ihr standen zwei schwere Staffeleien mit großen abstrakten Bildern auf blauem Untergrund. Sie standen noch da, obwohl sie fertig waren, frische Schaustücke für Besucher. »Ich würde anderen Leuten nie Werke zeigen, die noch auf dem Weg sind.« Linker Hand war ein einfacher weißer Tisch, Dosen voller Pinsel, Pastasaucen-Gläser mit Lösungsmitteln, Maler-Alchemie. An den Wänden lehnten Dutzende Bilder und Zeichenmappen in großen und kleinen Formaten – alle mit dem Rücken zum Betrachter. Man merkte sofort: Das ist kein Museum, keine Galerie, sondern eine Werkstatt. Sie begann ihre Arbeit immer im Morgengrauen, noch in Pyjama und Pantoffeln. Ein Blick von der Empore zur halb fertigen Leinwand auf der Staffelei, dann stieg die Malerin hinab und machte sich sofort ans Werk. So hielt sie es seit 75 Jahren. Ich sah mich um: kein Schemel weit und breit. Françoise Gilot malte im Stehen, deshalb die Pantoffeln: Man stand einfach bequemer über viele Stunden. Ich versuchte, mir die elegante, zarte Dame vorzustellen, wie sie in einem beklecksten Pyjama und Pantoffeln vor der Staffelei lauerte, in jeder Hand mit einem Pinsel bewaffnet – unmöglich. Sie zuckte mit den Schultern: »Wenn du im Nachthemd bist, dann bist du nicht so kritisch. Manchmal sitzt mir der Kritiker wie ein Vogel auf der Schulter. Aber die Vernunft ist kein Freund des Malers, du brauchst sie nicht unbedingt bei der Arbeit. Zum Malen brauchst du Leidenschaft, du musst in Schwung kommen und den Vogel Zweifel von der Schulter scheuchen.« Auch das Alter war kein Freund des Malers. Vor fünf Jahren hatte sie freiwillig mit dem Autofahren aufgehört – Probleme mit dem Herzen. Nicht, dass sie Angst vor dem Tod hätte, aber sie wollte niemanden mit sich nehmen. »Wenn du auf dem Freeway einen Herzinfarkt hast, tötest du womöglich noch jemand anderen.« Noch schwerer wog ein anderes Altersleiden: Sie war inzwischen auf dem linken Auge fast blind. Für eine Malerin eine Katastrophe, oder? »Ach was, das stört mich überhaupt nicht. Natürlich könnte es ein Problem bei der Perspektive sein, aber in meinen Bildern schaffe ich den Raum ohnehin nicht aus der Perspektive, sondern durch die Farben!« Ihre gelassene Einstellung überraschte mich: Wie oft hatte ich alte Menschen über dies und das klagen hören – durchaus nachvollziehbar, wenn die Lebenskräfte ab- und die körperlichen Leiden zunehmen. Françoise Gilot schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, sondern machte einfach weiter. Mehr noch: Sie schien selbst verwundert über ihre Zähigkeit. »Eigentlich hängt mir das Leben zum Halse heraus«, sagte die alte Dame und rührte empört mit den Händen in der Luft. Hatte sie nicht alles schon getan und erlebt? Was sollte sie noch hier? »Als ich 86 wurde, dachte ich: Jetzt ist endlich Schluss, denn in dem Alter ist meine Mutter gestorben. Länger als sie zu leben konnte ich mir nicht vorstellen,denn niemand in unserer Familie war bis zu diesem Zeitpunkt älter als sie geworden. Dann wurde ich 87 und wunderte mich. 88 war verrückt, 89 schien unmöglich und 90 war nun wirklich das Allerletzte. Als ich 90 wurde, dachte ich mir: Du musst dich umbringen, wenn du jemals sterben willst. Aber da ich keinen Grund sah, mich umzubringen, lebe ich eben weiter und sage mir: Das musst du jetzt durchstehen. Ich hasse es. Aber da ich nun mal hier bin, male ich eben.«

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Françoise Gilot – Die Frau, die Nein sagt

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Leben mit Picasso

Für eine lebensmüde Neunzigjährige hatte Françoise Gilot allerdings ziemlich viel zu tun. Zehn Monate im Jahr wohnte und arbeitete sie in ihrem 100 Jahre alten Studio nur wenige Meter vom Central Park entfernt auf der Upper West Side in Manhattan. Den Mai und Juni verbrachte sie in Paris in ihrem zweiten, ebenso großen Studio. Die Bilder reisten mit ihr hin und her. Als ich bemerkte, dass sie trotz Lebensüberdrusses mehr Energie hatte als eine Handvoll Teenager, blickte sie mich streng an: »Ich habe gesagt, dass mir das Leben zum Hals heraushängt, nicht die Malerei!« In 75 Jahren war dabei ein mächtiges OEuvre entstanden: Mehr als 5000 Zeichnungen und 1600 Gemälde waren es bis heute, und täglich wuchs das Werk weiter. »Außer malen tue ich ja nichts.« Eine Untertreibung. Da gab es das Archiv, in dem ihre wichtigsten Werke mit genauen Angaben verzeichnet waren und das gepflegt werden musste. Auch die Korrespondenz aus aller Welt riss nicht ab. Von nirgendwo erhält sie mehr Post als aus Deutschland. »Ich bekomme jeden Monat drei, vier Briefe aus Deutschland mit der Bitte um Autogramme, ist das nicht lustig?« Nur der kleinste Teil ihrer Bilder war in Museen zu sehen, und doch war sie überall präsent. Seit über einem halben Jahrhundert hatte sie jedes Jahr mindestens eine Ausstellung ihrer Werke. Die Kunstsammlungen Chemnitz widmeten ihr 2003 und 2011 eigene Ausstellungen. Die meisten Bilder befinden sich im Privatbesitz von Sammlern in Amerika, England, Skandinavien und Deutschland. Das Metropolitan Museum in New York hat einige Zeichnungen gekauft, darunter ein frühes Selbstporträt von 1941, auf dem die zwanzigjährige Françoise Gilot den Betrachter direkt aus ernsten Augen anblickt. Paris war zu dieser Zeit schon unter deutscher Besatzung, und das Leben der jungen Studentin der Philosophie und Rechtswissenschaft war mehr als einmal in Gefahr gewesen.

* * *

Als sie am 11. November 1940 zusammen mit Kommilitonen zum Arc de Triomphe marschierte, um Blumen auf das Grab des unbekannten Soldaten zu legen, wurde sie verhaftet und ihr Name auf eine Liste mit Geiseln gesetzt. Wenn in ihrem Wohnviertel ein deutscher Soldat getötet worden wäre, hätten die Deutschen 50 Franzosen auf dieser Liste umgebracht. »Es war ziemlich unangenehm«, erinnert sie sich. Drei Monate lang musste sie sich jeden Tag auf der Kommandantur melden. Doch die weit aufgerissenen Augen der jungen Frau auf dem Selbstporträt von 1941 sind nicht die ängstlichen Augen eines Tieres im Scheinwerferkegel. Aus ihnen spricht keine Angst, sondern Lebensneugier, ja: Lebensgier. Ihr Blick ist ernst und fest. Kein Unglück, denkt sie sich, das nicht auch seine positive Seite hat. Obwohl ihre Eltern das zeichnerische Talent der einzigen Tochter früh erkannt und gefördert hatten, verbot ihr der Vater, zur Kunstakademie zu gehen und die Malerei zum Beruf zu machen. So schloss sich an das offizielle Studium ein heimliches an, und sie ging jede Woche zu dem ungarischen Maler Endre Rozsda. Drei Monate nach ihrer Verhaftung kommt ihr eine kühne Idee. Als sie sich wieder auf der deutschen Kommandantur melden muss, gibt sie an, nicht mehr Jura zu studieren. »Aus irgendeinem Grund hassten die Deutschen Jura-Studenten. Also habe ich gesagt: Ich bin Modegestalterin. Da haben sie mich laufen lassen, und seitdem male ich jeden Tag.« Ihr erstes Ölbild malte Françoise Gilot 1939, da war sie 17. Es zeigt den Blick aus einem Fenster auf eine sonnendurchflutete französische Landschaft,  und man erkennt sofort, dass darin die Geschichte ihres Lebens vorgezeichnet ist. Die großen offenen Türen sind in kühlem Blau gehalten, und das filigrane Eisengitter des französischen Balkons schafft eine gewisse Distanz zwischen dem Rauminneren und der bunten, wilden Welt dort draußen. Françoise Gilot hat ihr kühles, nordisches Temperament nie verleugnet, das ein Erbteil ihrer Vorfahren aus der Normandie und dem Elsass ist. »Den Italienern kommt es vor allem auf Stil und Ausdruck an, die Spanier suchen Extreme, das brutal Deformierte. Ich glaube, ich bin in meiner Malerei viel eher eine Mathematikerin oder Philosophin und daher typisch französisch. Die Menschen in Frankreichs Norden haben dieses besondere Interesse daran, Mathematik und Metaphysik zu verbinden. Meine Vorfahren waren Wikinger, ist es da ein Wunder, dass meine Bilder nördliche Bilder sind?« Der Norden ist ihre Himmelsrichtung. Von dort muss auch das Licht kommen, das durch die sechs Meter hohen Fenster sanft auf die Art-déco-Möbel ihres Pariser Ateliers fällt. »Das Nordlicht ist das beste, weil es den ganzen Tag über gleichmäßig ist.« Das ist der Lichtkompass der Malerin: Osten ist am zweitbesten, Süden schlechter und am allerschlimmsten der Westen, der mit seiner schwülen Nachmittagssonne die Leinwand in kitschiges Rosa taucht. »Ich hatte mal ein Studio mit 36 Fenstern, und kein einziges ging nach Norden!« Natürlich gehen ihre beiden Ateliers in New York und Paris nach Norden. Françoise Gilot war noch nie ein Mensch, der sich anderen gegenüber bereitwillig öffnete, das galt sogar für ihre eigene Familie. Zu nordisch, zu französisch, zu vornehm war ihre Herkunft. Gefühle zeigen? Quelle horreur! »Selbst Picasso kannte mich trotz unserer zehn gemeinsamen Jahre nie, denn ich habe mich verschlossen. Ich enthülle mich nie, warum sollte ich das?«, sagte sie im freundlichsten Tonfall, bis ihr schallendes Lachen das Eis durchbrach. Fiel das nicht schwer, fragte ich mich, so viel zu erleben und dann seine wahren Gefühle wie eine Flaschenpost zu verkorken? »Überhaupt nicht, denn ich drücke mich in meinen Bildern aus, und auch darin ist es immer noch mysteriös. Wenn ich male, steckt alles darin, aber nicht jeder kann es entziffern.« Als ich mich an jenem Abend unseres ersten Treffens von Françoise Gilot verabschiedete und den Montmartre hinunterlief, wusste ich, dass ich sie wiedersehen musste

Seiten 23 bis 32 aus Françoise Gilot – Die Frau, die Nein sagt. Ihr Leben mit und ohne Picasso. Von Malte Herwig. Diogenes Verlag 2021. Die Erstausgabe erschien 2015 im Ankerherz Verlag, Hollenstedt. Copyright © Malte Herwig.

Françoise Gilot – Die Frau, die Nein sagt. Ihr Leben mit und ohne Picasso | eBook |  Leseprobe 

Außerdem Neuauflage von Leben mit Picasso von Françoise Gilot (geschrieben gemeinsam mit Carlton Lake)Aus dem Amerikanischen von Anne-Ruth Strauß. Mit 23 Reproduktionen von Bildern, Zeichnungen und Fotos. 

Leben mit Picasso  |  Leseprobe