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»Theodor ist ein Patriarch mit Rissen« – Sarah Pines über ihren Debütroman

Mit Der Drahtzieher schenkt uns Sarah Pines einen Roman voller Leidenschaft, Macht und Intrigen.

Theodor Hugo Hasselt ist ein Fabrikant aus dem Sauerland, ein Patriarch, der sich rettungslos in Alba verliebt. Deren Interesse gilt jedoch schon bald Theodors bestem Freund Albert. Es entspinnt sich eine spektakuläre Verstrickung der Gefühlswelten – dabei versetzt die Autorin uns zurück in das schillernde Leben der Roaring Twenties. Eine absolute Leseempfehlung!

Im Kurzinterview mit Sarah Pines lesen Sie mehr über die Hintergründe des Romans und über die Faszination der Autorin für Grenzsituationen und den Niedergang.

Foto: © Elena Mudd

Ihr Debütroman ist die Milieustudie einer im Untergang begriffenen Gesellschaft der 1920er-Jahre. Was hat Sie daran gereizt?
Ich bin fasziniert, immer schon fasziniert gewesen, von Momenten, ob gesellschaftlich oder ›persönlich‹, die einen Niedergang ankündigen. Wenn ich Dinge, Menschen, oder Situationen betrachte und irgendwas an ihnen begonnen hat, aufzuhören, einer dunkleren Seite entgegenzuschlittern. Nur ist es den Personen noch gar nicht klar, nur mir als Beobachterin, zumindest rede ich mir das ein: Der früheste Beginn von Situationen, die dann zum Ende führen, unweigerlich gen Abgrund steuern, es hat für mich etwas so unfassbar Schönes, sachte Tragisches und natürlich bieten sich die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts doppelt gut für diese Beobachtung, da sie kulturell so sehr ästhetisch durchsetzt sind (Mode, Kunst, Musik, der ganze wunderbare ›Great Gatsby‹-Style), dass der nahende Untergang umso eindringlicher erzählt werden kann.

Im Vordergrund steht der Drahtseilfabrikant Theodor. Doch auch die Gedanken der anderen Hauptfiguren fluoreszieren durch die Erzählung, darunter die von Alba und Marthe. Wofür stehen die beiden Frauen, welche Rolle spielen sie? Sind sie stellvertretend für ihre Zeit?
Alba ist angelockt vom Leben der europäischen Upper Middle Class und folgt Theodor auf sein aufschneiderisches Werben hin ins Landhaus bei Iserlohn. Was als wundersame Affäre beginnt, wird bald von Intrige durchzogen, wird hässlich, traurig, auch bösartig. Theodor ist es gewohnt, Dinge zu besitzen, Alba allerdings auch. Sie ist ambivalent, schlaff, aber darin stark. Marthe ist ebenfalls stark, gar herrisch, elegant, unabhängig (von Theodor). Theodor ist ein Patriarch mit Rissen – und vielleicht hatte das Patriarchat schon immer Risse –, und ich dachte, das wirkliche Wesen des Patriarchen, des meistgehassten Menschenschlags unserer Gegenwart, kann sich in seinen guten und unguten Eigenschaften am besten da zeigen, wo es auf mit Zuneigung vermischten Widerstand stößt, aber nicht auf Hass.

Welchen Bezug haben Sie zu den Romanschauplätzen Sauerland und Südafrika?
Ich bin im wunderbaren Sauerland bei meinen Großeltern mitten im Wald aufgewachsen und habe dort den Großteil meiner Kindheit verbracht, weil meine Eltern sehr jung waren, als sie mich und meine Schwester bekommen hatten und noch mitten im Studium steckten, meine Großeltern waren also unter der Woche unsere Babysitter. Was Afrika angeht: In den Zwanzigerjahren waren die Brüder meines Urgroßvaters nach Südafrika ausgewandert und heute leben dort ihre Nachkommen, eine Riesenfamilie mit vielen großzügigen Farmen, Eukalyptus, Macadamianüsse, Strauße (die Vögel), die wir gerne besuchen. Ich schreibe eigentlich nie über Orte, die ich nicht live erlebt habe. Außerdem fand ich den Kontrast toll, nordische Fichte und trockenes Land, Theodor ist in Afrika anders als im Sauerland, hilfloser und täppischer. Je nach Umgebung lernen wir ihn von anderen Seiten kennen, die aber alle das eine Bild des niedergehenden Patriarchen ergeben.

In Der Drahtzieher geht es neben dem Patriarchat auch um männlichen Machtmissbrauch sowie deutsche Kolonialgeschichte, Themen, die heute kritisch und neu betrachtet werden. Wie verbinden sich die 1920er-Jahre und unsere Gegenwart in Ihrem Roman?
Seit #MeToo gibt es eine geschärfte Aufmerksamkeit nicht nur für sexuellen, sondern auch für emotionalen, verbalen Missbrauch, auf eine Art ist es das, was Theodor mit Alba betreibt. Er quält sie mit Worten. Dann ist seine Geschichte die eines Patriarchen. Das Patriarchat ist, so beschreibt es Max Weber, der Glaube an die Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen, das im Bewusstsein der Unterworfenen allem anderen vorausgeht. Theodor ist ein solcher Patriarch, aber er lässt sich auch unterbuttern – von Frauen oder Situationen, eben der in Afrika, dort wird er krank, er schwitzt, er begreift die Umgebung nicht und auch nicht, wie arrogant er sich ihr verschließt –, ist schwach, brutal und sanft und lächerlich zugleich.
In Der Drahtzieher wollte ich die Grenzen dessen verwischen, was es bedeutet, auch damals schon bedeutete, ›Patriarch‹ zu sein, zumal ja heute nichts verhasster ist als eben das: der weiße, heterosexuelle Patriarchenmann, der immer schon am Ende dessen angelangt ist, was er eigentlich repräsentiert. Hier funktioniert die Spätzeit der sauerländischen Weimarer Republik als historische Blaupause: der Anfang eines Endes. Das Ende des Patriarchen ist auch das Ende der damaligen, das Ende der damaligen das Ende unserer Gegenwart.
 

Ein Interview mit Sarah Pines von Vanessa Lages Alves, Juli 2024.
© by Diogenes Verlag AG, Zürich

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Der Drahtzieher

Theodor Hugo Hasselt hat Haltung, Wutanfälle und fluktuierende Finanzen. Der Fabrikant aus dem Sauerland soll das eingeschlafene deutsch-britische Eisenbahnprojekt »Vom Kap nach Kairo« wiederbeleben. In Südafrika verliebt er sich rettungslos in seine Cousine Alba und führt sie heim auf sein Landgut in Iserlohn. Doch dort angekommen, will Alba plötzlich Theodors besten Freund Albert, der wiederum mit Marthe verlobt ist, Theodors Jugendliebe und Langzeitgeliebter. Ein Hohelied und ein Abgesang auf die unvergleichlichen Zwanzigerjahre.

Hardcover Leinen
320 Seiten
erschienen am 21. August 2024

978-3-257-07278-5
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

Sarah Pines ist im Sauerland und in Bonn aufgewachsen, hat Literaturwissenschaft in Köln und an der Stanford University studiert und wurde in Düsseldorf mit einer Arbeit über Baudelaire promoviert. Sie schreibt für die Kulturressorts der Zeit, der Welt und der NZZ. Pines lebt als freie Autorin in New York. Der Drahtzieher ist ihr Debütroman.