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Micha Lewinsky über Flucht, Aufbrechen und Ankommen

Was würden Sie tun, wenn Krieg ausbricht? Wohin würden Sie gehen? Und mit wem?

Micha Lewinskys Romandebüt Sobald wir angekommen sind hallt lange in uns nach und stellt uns vor genau diese Fragen. Zugleich ist es ein schwungvoller Text, der durch humorvolle Passagen und die neurotischen Charakterzüge des Protagonisten Ben Oppenheim immer wieder für Leichtigkeit sorgt. Im Diogenes Interview spricht der Autor über die besondere Mischung aus Komödie und Drama, über die Rolle, die das jüdische Leben in seinem Roman spielt, und über die erschreckende Aktualität des Weltgeschehens, das er in seiner Geschichte skizziert.

Foto: © Doris Fanconi

Ihr Romandebüt Sobald wir angekommen sind spielt sehr mit der Aktualität. Aus welchem Impuls heraus haben Sie diese Idee entwickelt?

Als Russland 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, wurde plötzlich wieder laut über den Einsatz von Atomwaffen diskutiert. Ich habe mich damals bei der Frage ertappt, wohin wir die Kinder in Sicherheit bringen würden, wenn es so weit käme. Aufs Land? Nach Frankreich? Nach Amerika? Und wer würde mitgehen? Für Patchworkfamilien ist bereits die Logistik des Alltags im Frieden eine Herausforderung. Und dann ein Weltkrieg …


Sie haben eine Komödie über ernste Themen, wie etwa die Gefahr eines Dritten Weltkriegs, geschrieben – wie geht das?

Reine Komödien ohne Tragik interessieren mich nicht. Reine Dramen ohne Humor halte ich schwer aus. Auch meine Spielfilmdrehbücher hatten immer einen teilweise komödiantischen Tonfall. Dabei wurden schwierige Themen wie Suizid oder Missbrauch verhandelt. In meinem Kinderbuch Holly im Himmel geht es um das Sterben eines Mädchens. Und auch da wird, wenn ich das Buch vorlese, viel gelacht im Publikum. Humor bedeutet für mich nicht, dass man die Probleme weniger ernst nimmt – es ist eine Art, mit ihnen umzugehen.


Die Hauptfigur Ben sehnt sich nach Zugehörigkeit, ist verunsichert als Mann und in seiner jüdischen Identität. Was hat Sie an diesen Themen gereizt?

Als ich angefangen habe zu schreiben, wusste ich noch nicht, dass diese Themen so wichtig sind für Ben. Ich dachte, er sei einfach ein bisschen neurotisch. Erst mit der Zeit habe ich verstanden, wie viel seine Macken mit der jüdischen Herkunft zu tun haben.


In einem NZZ-Gastbeitrag (2023) schrieben Sie: »Lese ich Stefan Zweig, der sich nach dem Ersten Weltkrieg gegen Nationalismus aussprach, werde ich zum glühenden Pazifisten.« Auch im Roman bildet Stefan Zweig eine Art roten Faden – weshalb?

Ben sieht in Stefan Zweig einen Verwandten im Geiste. Ein jüdischer Autor, der früher als andere versteht, wie gefährlich die Situation in Europa wird. Er flieht nach Brasilien und ist so für Ben beinahe ein Role Model. Das ist natürlich furchtbar anmaßend und auch schlicht unpraktisch. Denn Zweig kommt ja nicht davon. Er verzweifelt im Exil und zerbricht an der schwierigen Situation der Welt. Ben muss einen anderen Weg für sich finden.


Sie haben sich als Filmemacher und Drehbuchautor einen Namen gemacht. Was kann die Literatur, was das Drehbuchschreiben nicht kann?

Ich spüre beim literarischen Erzählen eine Freiheit, die ich im Film oft vermisst habe. Bei einem Roman reden weniger Leute mit. Es muss nicht bei jedem Satz abgewogen werden, wie das Publikum reagieren könnte oder die Schauspielerin oder die Förderung. Der Text ist alles, was zählt. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten.


Die Ereignisse in dieser Welt haben sich während der Romanentstehung überschlagen. Wie hat sich das auf Ihr Schreiben ausgewirkt?

Als Folge der Auseinandersetzungen im Nahen Osten ist auch der Antisemitismus in Europa wieder deutlich spürbar geworden. Das hat mehr mit den Themen meines Romans zu tun, als ich ursprünglich dachte. Der Text ist mit jedem Tag aktueller geworden. Darauf hätte ich sehr gerne verzichtet. Wir alle, denke ich.

 

Das Gespräch mit Micha Lewinsky führte Anne H. Kaiser

© by Diogenes Verlag AG Zürich

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Sobald wir angekommen sind

Ben Oppenheim balanciert zwischen Ex-Frau, zwei Kindern und seiner Liebe zu Julia. Er hat Rückenschmerzen und Geldsorgen, aber was ihn wirklich ängstigt, ist der Krieg in Osteuropa. Getrieben vom jüdischen Fluchtinstinkt steigt er eines Morgens kurzerhand in ein Flugzeug nach Brasilien. Mitsamt Ex-Frau und Kindern, aber ohne Julia. Im Krisenmodus läuft Ben zur Hochform auf. Nur der Atomkrieg lässt auf sich warten. Ben dämmert, dass er sich ändern muss, wenn sich etwas ändern soll.


Hardcover Leinen
288 Seiten
erschienen am 24. Juli 2024

978-3-257-07315-7
€ (D) 25.00 / sFr 34.00* / € (A) 25.70
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