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Das Einmaleins der Philosophie mit Jonny Thomson

Philosophieren hat den schlechten Ruf, den Kopf entweder in Wolken entschweben zu lassen oder ihn zum Rauchen zu bringen. Deswegen muss man die großen Denker:innen aber keineswegs in einen Turm schließen. Im Gegenteil: Spätestens seit der NBC-Serie The Good Place von Michael Schur gehören sie wieder in den Alltag, in Cafés und gemütliche Wohnzimmer und dürfen auch von Anfänger:innen und Hobbyphilosoph:innen unter die Lupe genommen werden!

Foto: © Anna Cole

Kaum jemand hat die Gabe, die intellektuellsten und kompliziertesten Konzepte so klar und humorvoll auf unser Leben hinunterzubrechen wie Jonny Thomson. Von antiken griechischen Paradoxien bis zu existenzialistischen Ideologien: Der Autor braucht nie mehr als zwei Buchseiten und ein charmantes Piktogramm, um eine Gedankenschule prägnant zu erklären. Von der Beliebtheit seines Instagram-Accounts inspiriert, versammelte er im Sachbuch Mini Philosophy 150 mundgerechte Einblicke in die größten Köpfe der Philosophie. Davon gibt es hier auf Deutsch eine exklusive Leseprobe.

Bentham

und die Berechnung der Moral

Wäre es nicht großartig, eine Methode an der Hand zu haben, mit der man kinderleicht herausfinden kann, was richtig und was falsch ist? Ein einfaches Werkzeug, das einem sagt, wie man sich in dieser oder jener Situation verhalten sollte?
    An einer solchen Methode versuchte sich der englische Philosoph Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert mit seinem Hedonistischen Kalkül.
Bentham ist der Vater der normativen (also die Handlungsweise betreffenden) ethischen Theorie, die als Utilitarismus bekannt ist: Ob eine Handlung richtig oder falsch ist, bemisst sich demnach allein an ihren sozialen Folgen. Geht daraus Nutzen oder Freude hervor, ist sie gut; führt sie zu Not oder Schmerz, ist sie schlecht. In Benthams Worten: »Das größte Glück der größten Zahl ist der Maßstab für Recht und Unrecht.«
Konkret hieße das, Robin Hood handelte moralisch; Butch Cassidy eher nicht. Der Zweite Weltkrieg war gut (für die Alliierten); Dschingis Khan war es nicht. Einen Menschen zu töten, um zehn anderen das Leben zu retten, ist richtig; einen Krieg zu beginnen, um eine Prinzessin zu befreien, ist es nicht. Einfach ausgedrückt: Mach die Menschen glücklich, und minimiere das Elend. Bedenke stets die Folgen deines Handelns.
    So weit, so gut, doch eine Frage bleibt: Wie können wir mit Sicherheit sagen, ob das Ergebnis unserer Handlungen positiv oder negativ ausfällt? Bentham weiß die Antwort: durch das Hedonistische Kalkül!
    Dabei werden die Vor- und Nachteile einer jeden Handlung auf der Grund-lage von sieben Kriterien aufgelistet: Intensität, Dauer, Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens, zeitliche Nähe, Fruchtbarkeit (wird sie weitere positive Aspekte nach sich ziehen?), Reinheit (wie wahrscheinlich ist es, dass eine Befriedigung zu Schmerzen führt?) und Verbreitung. Je mehr Informationen wir über die Kriterien und die Konsequenzen unseres Tuns haben, desto besser.
    Nun müssen Sie nur noch die einzelnen Werte zusammenzählen – et voilà! Jetzt wissen Sie, wie Sie handeln sollten. Nichts einfacher als das. Moral nach den Vorgaben des mathematischen Zeitalters: Ethik für Rationalisten. Klar wie Kloßbrühe!
    Bleibt zu hoffen, dass Sie auch jedes Mal, bevor Sie zur Tat schreiten, ein, zwei Stündchen Zeit haben, um das alles fein säuberlich auszurechnen.

Sartre

und die anderen

Bitten Sie eine Freundin oder Verwandte, Sie in wenigen Worten zu charakterisieren. Was empfinden Sie, wenn Sie lesen oder hören, was sie sagt? Sind Sie zufrieden, weil Sie sich genau richtig eingeschätzt wähnen? Oder fühlen Sie sich irgendwie … zurechtgestutzt? Fragen Sie sich, wie sogar jene, die Ihnen am nächsten stehen, so viele Ihrer Qualitäten übersehen können?
    Der gleiche Gedanke steht hinter Jean-Paul Sartres oft zitiertem Spruch:  »Die Hölle, das sind die anderen.«
    Wir alle sind wahnsinnig komplexe Wesen. Wir alle haben Fantasien, die niemand kennt, Geheimnisse, die wir nicht teilen, Ängste, die wir tief in uns begraben, und Facetten, die kein anderer je erfassen wird. Wir sind das fühlende, denkende Subjekt unseres Lebens, gefangen und allein im Kerker unseres Geistes.
    Und doch sind wir gezwungen, mit anderen Menschen zusammenzuleben, die uns beobachten, uns hören, uns bewerten. Sobald Sie einen Raum betreten, fällt jeder der dort Anwesenden unwillkürlich ein Urteil über Sie, basierend auf Ihrer äußeren Erscheinung. Für die anderen sind Sie nur ein Objekt, dem man im Bruchteil einer Sekunde ein Etikett verpasst. Plötzlich sind Sie »die Lustige«, »die Belesene«, »die Pflegende«, »die Langweilige«, »die Dicke« oder »die Linkische«. Das Gewicht des Verdikts lastet schwer – und es schmerzt. Selbst jene, von denen wir glauben, dass sie uns am besten kennen, werden niemals die ganze Komplexität unseres Charakters erfassen. Stets werden wir komprimiert, beschriftet und verstaut. Und unser heiß geliebtes, innerstes Selbst? Wird einfach übersehen. Also beginnen wir, über die Ungerechtigkeit der Welt zu schimpfen; wir möchten laut schreien: »Ich bin mehr als das!«
    Doch damit nicht genug, wir fangen sogar an, uns mit den Augen der anderen zu sehen. Wir wurden zur Profanität reduziert und schämen uns dafür, fühlen uns gedemütigt.
    Also zahlen wir es den anderen mit gleicher Münze heim. Wir streichen sie und ihre Komplexität zusammen, kappen Teile ihres wahren Ichs, verringern ihre Bedeutsamkeit. Wir, die gekränkten Subjekte, objektivieren andere, damit deren Urteil uns weniger verletzt. Wir umschmeicheln unser Ego, indem wir die anderen zum Schweigen bringen und uns selbst wieder zu Helden erklären.
    Die anderen sind also die Hölle, weil sie uns unserer Persönlichkeit berauben. Sie geben uns das Gefühl, klein und nichtig zu sein, einfältig, geistlos und langweilig. »So bin ich doch gar nicht!«, möchten wir ihnen entgegenbrüllen, beißen uns dann aber lieber auf die Zunge, schließlich wollen wir ja nicht auch noch unhöflich erscheinen.

Camus

und die Revolte

Wann ist der Punkt erreicht, an dem Sie sich zur Wehr setzen? Wie viele Beleidigungen, Ungerechtigkeiten, Demütigungen oder Grausamkeiten nehmen Sie hin, ehe Sie es nicht länger ertragen? Wann sagen Sie: »Jetzt reichts!«?
Diese Grenze, die niemand überschreiten kann, dieser Punkt der endgültigen Auflehnung, könne uns viel darüber verraten, wer wir sind, meinte Albert Camus.
    Ein Großteil von Camus’ Werk kann als bewusster Versuch gedeutet werden, den Nihilismus zu überwinden – also die Auffassung, das Leben sei sinn- und zwecklos. Eindringlich behandeln seine Romane und Essays die Frage des Menschseins und welche Werte man im postreligiösen (und postnietzscheanischen) Nichts hochhalten kann.
    Einer seiner bedeutendsten Texte ist Der Mensch in der Revolte (1951). Im Leben, schreibt Camus, gebe es bestimmte Wendepunkte, an denen Kompromisse unmöglich werden und wir für jene Werte einstehen, die uns definieren. Hier ziehen wir eine lebensbejahende Linie, um zu offenbaren, »was im Menschen allezeit zu verteidigen ist«. Hier sagen wir: »Das bin ich bereit zu geben, aber mehr nicht.«
Der Revoltierende bekennt sich zu einem Kern seines Wesens, den kein anderer Mensch anrühren darf. Das kann ein überarbeiteter Angestellter sein, der seinem Chef sagt, dass er jetzt endgültig nach Hause geht; ein Schulkind, das sich weigert, eine ungerechte Bestrafung zu akzeptieren; ein Opfer häuslicher Gewalt, das seinen Partner verlässt; ein Sklave, der sich zur Flucht entschließt.
    Kurz gesagt, wir alle haben einen Hügel, auf dem zu sterben wir bereit sind, und dieser Gipfel definiert unser Leben.
Die Revolte steht in engem Zusammenhang mit Camus’ Idee des Absurden. Am freiesten und fröhlichsten, sagt er, sind wir im Zustand größter Unterdrückung oder Verzweiflung. Wenn wir nichts mehr zu verlieren haben, entdecken wir Tiefen in uns, von denen wir sonst vielleicht nie erfahren hätten. Freiheit bemisst sich danach, inwieweit sie verweigert wird.
    Wenn man bedenkt, wie vehement Camus anderswo die Vorstellung absoluter Wahrheiten, die uns in die eine oder andere Richtung zwingen, ablehnte, mag der kantianische Anklang in Der Mensch in der Revolte seltsam anmuten, schließlich spricht er dort von bestimmten unausweichlichen Aufgaben und Verpflichtungen. Der Revoltierende ist kein selbstbezogener Egoist (obwohl der Akt der Revolte immer ein privater ist); vielmehr bekräftigt er seinen Respekt und seine Solidarität gegenüber der Menschheit als Gemeinschaft. Mehr noch: Der Mensch sei »metaphysisch«, sagt Camus, in uns allen ist etwas, das über diese Welt hinausgeht und unabänderlich ist. Da klingt er eher wie die Essenzialisten der Antike, denen zufolge der Mensch einen vorgegebenen Wesenskern besitze, als nach den Existenzialisten seiner Zeit, die glaubten, nichts sei unveränderlich.
    Wenn Sie also das nächste Mal Nein sagen, erinnern Sie sich daran, dass Ihre Auflehnung eine tiefere Bedeutung hat. Sie ist keineswegs negativ zu verstehen, sondern repräsentiert Ihre fundamentale Bejahung des Lebens. In diesem Moment zeigen Sie der Welt und sich selbst, was Ihnen nicht genommen werden kann – es offenbart sich, wer Sie sind.

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Mini Philosophy

Das kleine Buch der großen Ideen
Aus dem Englischen von Peter Klöss. Mit Piktogrammen des Autors

In ›Mini Philosophy‹ befragt Jonny Thomson die schlausten Köpfe der letzten 2500 Jahre zu den brennenden Themen unserer Zeit. Sei es wahre Liebe, Mutter Natur, Langeweile, Kosmopolitismus oder die Frage nach der Existenz von Außerirdischen – die Philosophie leistet zu jedem Stoff ihren bereichernden und oft überraschenden Beitrag. Thomson bringt alte und moderne Ideen auf den Punkt und weiß sie humorvoll auf unseren Alltag anzuwenden. Unterhaltsame Texte für einen spielerischen Einstieg in die spannende Welt der Philosophie.


Hardcover Gebunden
320 Seiten
erschienen am 07. Dezember 2022

978-3-257-07216-7
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60
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