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Ein Autor – eine Stadt. Andrea de Carlo über Rom, die Stadt, die alles gesehen hat.

Italiens Bestseller-Autor Andrea De Carlo ist keiner, der Rom in den Himmel lobt. Die Hauptstadt und ihre Bewohner hat er oft als stolz und abgeklärt erlebt. Eine selbstgerechte, bürokratische Stadt und doch eine, die man kennen muss. Und lieben lernt. Die Geschichte einer Annäherung.

Foto: © Geomangio (via flickr.com)

Als ich mit dreizehn Jahren zum ersten Mal nach Rom kam, war ich fassungslos. In den Augen eines Jungen, der im nordischen, grauen, industrialisierten Mailand geboren und aufgewachsen war, glich die Hauptstadt Italiens einer gigantischen Kulisse, dafür geschaffen, den Besucher zu beeindrucken. Auf ihre Monumentalität, ihre Ausdehnung, ihre Üppigkeit war ich nicht im geringsten vorbereitet. 

Ströme von Touristen aus aller Welt umrundeten den ägyptischen Obelisken auf der Piazza del Popolo, schwärmten an den Schaufenstern der Via del Corso vorbei, musterten fasziniert die Luxusboutiquen der Via Condotti, kamen an der Piazza di Spagna heraus und sahen staunend die spektakuläre Treppe. Sie betrachteten die Paläste, die Denkmäler, die Ruinen, sie fotografierten, kauften Souvenirs, wie ich überwältigt von der sichtbaren und greifbaren Präsenz der Geschichte.

Andrea De Carlo. Foto: © Angela Scipioni

Ich erinnere mich an eine nächtliche Autofahrt rund um das Kolosseum, die Via dei Fori Imperiali entlang in Richtung Circus Maximus: die angestrahlten, großartigen Spuren einer Stadt, die zweitausend Jahre zuvor Mittelpunkt eines Imperiums gewesen war, das bis an die Grenzen der bekannten Welt gereicht und dessen Einfluss die Entwicklung der gesamten westlichen Kultur für immer geprägt hat. Richtig klar war es mir damals nicht, doch in meinen Schock mischte sich auch die vage Ahnung, dass die effektvolle Opulenz des heutigen Roms das ganze übrige Italien äußerste Anstrengung kostete. Millionen von Arbeitern in den Fabriken, Angestellten in den Büros, Bauern auf den Feldern, Handwerkern, kleinen und mittelständischen Unternehmern des ganzen Landes arbeiteten, seit Rom 1871 zur Hauptstadt Italiens wurde, daran, genügend besteuerbaren Reichtum zu erzeugen und in eine Stadt fließen zu lassen, die Ressourcen verschlingt, ohne je genug zu bekommen.

Foto: © Andreas Tille (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons

Die Hauptstadt wiederum liefert sich selbst: ihren Namen, ihre historischen Wahrzeichen, ihre Gebäude, ihre Museen. Rom ist nie eine produktive Stadt gewesen, auch nicht vor Jahrtausenden, als der Rest des Reiches (oft buchstäblich) ausgeblutet wurde, um sie zu erhalten, doch heute ist sie es noch weniger. Abgesehen von den vielen Besitzern und Pächtern von Hotels, Restaurants, Bars und Geschäften geht ein großer Teil der wohlhabenderen Römer Beschäftigungen nach, die mir im Wesentlichen parasitär vorkommen: Sie arbeiten für die Regierung oder die zahllosen Ämter, die direkt oder indirekt von ihr abhängen, sie sind Politiker, Beamte, Verwalter, Kontrolleure, Rechtsanwälte und Notare. Natürlich arbeiten viele Römer auch auf konkrete Weise, sind Handwerker, Techniker oder Künstler, aber sie leben gewissermaßen in den Falten des Körpers der Stadt. Und da die Stadt im Vergleich zu dem, was sie verbraucht, wenig Reichtum produziert, ist ihre Gefräßigkeit unermesslich.

Montecitorio. Foto: © Palazzo chigi (via flickr.com)

Sie stand 2014 zum zweiten Mal vor dem Bankrott, und der Staat musste umgehend die Löcher in ihrem Haushalt stopfen, weil seine Hauptstadt ja nicht pleitegehen durfte und weil der italienische Staat Rom ist. Die Stadt mit ihren institutionellen Orten, ihren Ritualen und ihren Namen, die man als Synonyme für die Institutionen benutzen kann: Meint man den Sitz des Präsidenten der Republik, sagt man in Italien Quirinal, meint man das Parlament, sagt man Montecitorio. Das impliziert ausufernde Bürokratie, Ineffizienz, unerträgliche Privilegien, erbitterten Widerstand gegen Reformen. Die Kosten liegen auf der Hand, die Verschwendung kann man sich vorstellen. Die Missstände sind offensichtlich, man braucht nur die Autos anzusehen, die unter den teilnahmslosen Blicken der Polizei in zweiter und dritter Reihe parken. 

Silvester 2014 haben sich 83 Prozent der Stadtpolizisten krank gemeldet, damit sie sich nicht die Feiertage ruinieren müssen, indem sie zur Arbeit gehen. Was mich an Rom stört, ist der verbreitete Zynismus, der Hang zum Sarkasmus, das kalte Lächeln dessen, der schon alles gesehen hat und über nichts mehr staunt. Ich meine es ernst: Ich glaube nicht, dass ich je erlebt habe, wie sich ein Römer über irgendetwas wundert oder etwas erklärt oder sich erklären lässt oder offen Neugier für etwas äußert, was er nicht kennt. Wahrscheinlich kommt es daher, dass die Römer in einer Stadt leben, die einst der Dreh- und Angelpunkt der Welt war und dann jahrhundertelang nicht mehr – und danach hat sie sich doch wieder mit Millionen von Menschen bevölkert, die dort leben oder anreisen, um die Stadt zu besichtigen. Es gibt diese diffuse Erinnerung an absolute Macht und absolute Bedeutungslosigkeit, die sich abwechseln: erst Herz der imperialen Macht, zu dem man aus allen Provinzen hinströmte, dann eine Weide für Schafe und Ziegen zwischen den Ruinen, die die romantischen Reisenden des 19. Jahrhunderts faszinierten, dann Sitz der Regierung und magnetischer Anziehungspunkt für alle Italienbesucher. Als wäre das nicht genug, sitzt in Rom auch noch der Vatikan, ein winziger Staat, der einen übertriebenen Einfluss auf den größeren Staat ausübt, in den er eingebettet ist; systematisch greift er in dessen politische Entscheidungen ein, bedingt die Machtverhältnisse und zieht seinerseits Millionen von Pilgern und Touristen aus der ganzen Welt an.

Petersplatz, Vatikan (Foto: vy Diliff (Own work) [GFDL, CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons)

Manchmal, wenn ich an Rom denke, fällt mir ein, was Goethe in seiner »Italienischen Reise« über den zügellosen, grausamen Karneval auf der Via del Corso geschrieben hat, wo die Bewohner von beiden Seiten der Straße mit aller Kraft steinharte Zuckermandeln nach den Insassen der reich geschmückten Wagen warfen, die von der Piazza del Popolo zur Piazza Venezia fuhren. Oder Dickens’ noch lebendigere, noch verstörendere Beschreibung einer Darstellung des Letzten Abendmahls als Tableau vivant im Vatikan in seinen »Bildern aus Italien«, bei welchem der Papst und die Kardinäle als Jesus Christus und die Apostel an einem überreich mit Speisen und Wein gedeckten Tisch prassten und dem sie bedrängenden, niederen Volk die Reste zuwarfen, das gierig darauf wartete, sich den Bauch vollzuschlagen oder etwas nach Hause zu tragen. Oder »La Dolce Vita« von Fellini mit seinen Visionen von durchreisenden Filmstars, lässigen, aufdringlichen Paparazzi, zwielichtigen Intellektuellen, reichen, erschöpften Voyeuren. Noch heute ist Rom all das. Aber auch anderes, zum Glück.

Garten der Villa Borghese (Foto: By Jean-Christophe BENOIST (Own work) [GFDL or CC BY 3.0], via Wikimedia Commons)

Ich habe mehrmals dort gelebt, in verschiedenen Stadtvierteln: Trastevere, Prati und Parioli. Verschiedene Bezirke Roms mit unterschiedlicher Geschichte, Architektur und Stimmung. Am liebsten mag ich Trastevere, denn dieses Viertel hat den Charakter und die Größe eines Dörfchens in Mittelitalien und ist doch Teil einer Großstadt. Ich mag die niedrigen Gebäude, die engen, verwinkelten Gassen und das Kopfsteinpflaster. Und die Straßennamen: Vicolo del Leopardo, Via della Frusta, Via della Paglia – Leopardengasse, Peitschenstraße, Heustraße. Ich mag den Botanischen Garten mit seinen Kieswegen zwischen gepflegten Rasenflächen, wo die ausgefallensten Pflanzen wachsen; zum Hügel des Gianicolo hin verwildert er allmählich, bis er im steilsten Teil zu einem undurchdringlichen Dschungel wird.

Foto: © Geomangio (via flickr.com)

Ich gehe auch gern unter den Platanen die hohen Uferdämme des Tibers entlang, in der einen Richtung bis zur Engelsburg, in der anderen bis zur Tiberinsel. Es gefällt mir, dass ich eine Brücke überqueren muss, um ins Zentrum zu gelangen, und den Weg über den Campo de’ Fiori zu nehmen, wo die Statue von Giordano Bruno steht, den die Kirche bei lebendigem Leib verbrannte, weil er ein Freigeist war. Dann weiter zur Piazza Navona, die zur Zeit der römischen Kaiser geflutet wurde, um Seeschlachten mit echten Schiffen und Sklaven zu veranstalten, die sich vor den Augen der Zuschauer umbrachten, von dort zur Piazza del Pantheon, in deren Mitte sich eines der erstaunlichsten Zeugnisse vorchristlicher Architektur erhebt, und durch die Straßen, die quer über die Via del Corso zur Spanischen Treppe führen. Dieser Weg dauert zu Fuß eine gute halbe Stunde und beeindruckt mich jedes Mal. Genau wie auch die römischen Gärten, die der Villa Borghese und noch mehr der riesige Park der Villa Doria Pamphilj, der die Stadt überragt mit seinen welligen Wiesen, seinen Bäumen und seinem kleinen See, wo neben den Enten die Nutrias herumschwimmen, die in den 1940er Jahren aus einer Zucht ausgebrochen sind, Bibern ähnlich, aber mit dünnem Schwanz.

Foto: © Geomangio (via flickr.com)

Mir gefällt das Licht, die Entschleunigung in den verkehrsberuhigten Zonen, die Vielfalt der Physiognomien und Sprachen, denen man auf der Straße begegnet, die Tatsache, dass man zu jeder Zeit essen kann. Und das Klima, im Winter mild und im Sommer selten zu heiß, dank der Brise, die die Römer ponentino nennen und die am frühen Nachmittag Kühle bringt. 

Jetzt, seit ich nicht mehr in Rom wohne, kann ich, scheint mir, diese Aspekte besser schätzen, wenn ich durch die Stadt wandere wie einer der vielen fremden Besucher, die fasziniert umherstreifen, überwältigt von der Szenerie, dem Licht, der Hitze, dem Lärm, verunsichert von der Größe und den Entfernungen zwischen den Sehenswürdigkeiten. Die Römer gönnen ihnen mit ihrer typischen Desillusioniertheit kaum einen Blick. Im Lauf der Jahrhunderte haben sie schon alles Mögliche gesehen: Kaiser, Barbaren, Päpste, Eroberungsheere, einen Operetten-Diktator, eine Befreiungsarmee, Touristen, Filmstars, Politiker jeder Couleur. Sie wissen, dass ihre Stadt ein Faktum ist, dass man nicht so tun kann, als existiere sie nicht, dass man sie einfach mindestens einmal im Leben besucht haben muss.

Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Erstmals erschienen in MERIAN, Hamburg, Heft 5/2015.

Von Andrea De Carlo zuletzt bei Diogenes erschienen ist der Roman Villa Metaphora (am 26.8.2015). Auch als E-Book.