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Jacqueline O'Mahony im Interview:
Über weiblichen Mut, Irland und die Große Hungersnot

Jacqueline O'Mahonys Roman Sing, wilder Vogel, sing  spielt in Irland im Jahr 1849, zur Zeit der Großen Hungersnot. Aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur Honora schildert die Autorin eindrücklich die kargen und bedrängenden Lebensumstände der jungen Frau, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Amerika aufbricht.

Im Interview spricht Jacqueline O'Mahony über die historischen Hintergründe ihres Romans und darüber, warum ihr besonders die Erzählung aus weiblicher Perspektive wichtig war.

Foto: © Nick Gregan

Interview mit Jacqueline O’Mahony

Sing, wilder Vogel, sing ist Ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Die Hauptfigur Honora ist eine Frau, die eine unglaubliche Kraft und einen unbändigen Überlebenswillen in sich trägt. Gab es Vorbilder für diese Figur?
Ich wollte, dass die Protagonistin von Sing, wilder Vogel, sing weiblich ist. Die irische Gesellschaft ist traditionell matriarchalisch geprägt, und ich habe mich von historischen Figuren wie Grace O'Malley, der Piratenkönigin, und Königin Maeve inspirieren lassen, die gegen die führenden Häuptlinge ihrer Zeit Krieg geführt hat. Honora scheint mir eine typisch irische Frau zu sein, die für das kämpft, woran sie glaubt, und die nicht bereit ist, die willkürlichen Gesetze anderer zu akzeptieren.

Im Fokus von Geschichten über historische Ereignisse (Krieg, Hungersnot, Flucht) stehen oftmals Männer. Was hat Sie daran gereizt, die Ereignisse in Doolough und die Auswanderung aus einer weiblichen Perspektive zu schildern?
Inspiriert wurde ich durch ein Gedicht des großen irischen Schriftstellers Eavan Boland, der den weiblichen Körper als eine Straße der Hungersnot beschreibt. Das Gedicht knüpft an ein Thema an, über das ich schon länger nachgedacht habe: Wie hätte eine junge Frau die Hungersnot erlebt? Was wäre aus ihr geworden, wenn sie schwanger gewesen wäre? Wäre sie durch die Hungersnot unfruchtbar geworden? Wie hätte sich die Veränderung ihres Körpers unter der Last des Hungers auf sie ausgewirkt – wäre sie sich selbst fremd geworden? Die Erfahrungen von Männern und Frauen während der Hungersnot scheint sehr unterschiedlich gewesen zu sein, und ich verspürte den Drang, darüber zu schreiben. Frauen waren schwächer, sie hatten Kinder zu gebären und zu ernähren, und wenn sie versuchten auszuwandern, waren sie oft in viel größerer Gefahr als Männer. Was geschah in dieser Zeit mit den Körpern der Frauen? Was bedeutet es für Honora, wenn sie nichts mehr hat außer ihrem Körper, wenn sie im amerikanischen Westen zur Prostitution gezwungen wird? Ich hatte das Gefühl, das sind drängende Fragen, denen ich nachgehen muss.

Ist die Große Hungersnot als einschneidendes Erlebnis bis heute in der irischen Gesellschaft spürbar?
Die Erinnerung an die Hungersnot ist den Irinnen und Iren in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hat unseren Nationalcharakter geprägt. Die gesamte moderne irische Geschichte ist aus der Hungersnot hervorgegangen: der Geist des Widerstands gegen die Fremdbestimmung, der unbändige Stolz auf die irische Kultur und die Ehrerbietung sowie Scheu, die dem irischen Volk gleichzeitig eigen sind – all das sind Eigenschaften, die ihren Ursprung in der Hungersnot haben. Die Iren waren jahrhundertelang ein kolonisiertes Volk, und die Hungersnot stand im Mittelpunkt dieser Kolonisierung. In Irland gibt es immer noch viel Scham im Zusammenhang mit der Hungersnot, weil die Menschen schreckliche Dinge getan haben, um zu überleben. Es gibt auch Schuldgefühle: Warum haben einige überlebt, während so viele nicht überlebt haben?

Als es Honora auf ihrem Weg bis in den Wilden Westen verschlägt, werden ihr die verblüffenden Parallelen zwischen Native Americans und den Iren bewusst, auf die Sie auch in Ihrem Nachwort eingehen. Wie sind Sie auf diese historische Verbindung aufmerksam geworden?
Das war als Geschichtsstudentin, mit etwa 19 Jahren, als ich Nachforschungen für meine Bewerbung für ein Fulbright-Stipendium gemacht habe – obwohl ich das Gefühl hatte, in gewisser Weise schon immer von dieser Verbindung gewusst zu haben. Im Jahr 1847, dem dunkelsten Jahr der Hungersnot, schickten die Choctaws, ein nordamerikanisches indigenes Volk, Hilfsgüter an die Iren, und so entstand eine dauerhafte Verbindung. Aus meinem Studium  war mir dieses zentrale Ereignis also schon lange bekannt, aber später habe ich mehr und mehr Parallelen entdeckt, und irgendwann formte sich die Idee zu einem Buch: Sing, wilder Vogel, sing.

In ihrem Roman sind Vögel ein wiederkehrendes Motiv. So flog bei Honoras Geburt etwa ein Rotkehlchen durch das Zimmer. Was hat es mit dieser Symbolik auf sich?
In der irischen Mythologie sind Vögel wichtige Symbole, oft haben sie eine gewisse prophetische Funktion. Dem Rotkehlchen kommt dabei eine besondere Rolle zu: Es steht für die Geburt der neuen Sonne. In der alten irischen Sage tötete das Rotkehlchen (die neue Sonne) seinen Vater, den Zaunkönig (die alte Sonne), und seine Brust wurde danach mit dem vergossenen Blut rot gefärbt. Der Besuch eines Rotkehlchen im Haus wird als todbrigendes Zeichen für die Familie gedeutet. Mich hat diese Spannung zwischen Tod und Wiedergeburt fasziniert und auch die Vorstellung, dass das Rotkehlchen ein wilder Vogel ist, der nicht in Gefangenschaft gehalten werden kann (es heißt, dass die rote Brust des Rotkehlchens seine Farbe verliert, wenn es im Käfig gehalten wird). Die Figur des Rotkehlchens steht für Honoras innerstes Wesen. Er ist übrigens der einzige Vogel, der alle Töne der Tonleiter beherrscht und endlos lange singen kann, ohne sich zu wiederholen. Diese Virtuosität fasziniert mich. Die Eigentümlichkeit des Rotkehlchens, auch gegenüber allen anderen einheimischen Vögeln, spiegelt sich in Honoras Andersartigkeit wider, die letztlich ihre Rettung ist.

Ein Interview mit Jacqueline O‘Mahony von Vanessa Lages Alves und Anne H. Kaiser
März 2024
© by Diogenes Verlag AG, Zürich

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Sing, wilder Vogel, sing

Aus dem irischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda
Die junge Honora war schon immer eine Außenseiterin in ihrem Dorf an der irischen Westküste. Es ist das Jahr 1849. Als die Hungersnot ihre Gemeinschaft mit brutaler Wucht trifft, schöpft sie genau aus ihrem Anderssein die Kraft zu überleben. Nachdem sie alles verloren hat, bricht sie auf nach Amerika, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Honora gibt nicht auf, ehe sie ihre Freiheit findet – und jemanden, der sie als das erkennt, was sie ist.

Hardcover Leinen
368 Seiten
erschienen am 25. September 2024

978-3-257-07309-6
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
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Auch erhältlich als

Jacqueline O’Mahony, geboren 1972 in Cork, Irland, begann schon früh zu schreiben und wurde mit 14 Jahren von der Zeitung Irish Examiner als »Young Irish Writer of the Year« ausgezeichnet. Nach Studienjahren in Irland, Italien und den USA hat sie als Stylistin und Journalistin für Vogue und andere Medien gearbeitet und 2015 an der City University ihren Master in Creative Writing absolviert. Sie wurde bereits für diverse Preise nominiert und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in London.