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»Ein Buch, das mich nie losgelassen hat.« Ein Interview mit Steven Price

Tomasi ist ein Relikt der alten Zeiten, die neue Welt, die neue Zeit sind ihm fremd. Als sein Arzt ein Lungenemphysem im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert, beschließt Tomasi im Angesicht des Todes, des Untergangs seiner ganzen ihm bekannten Welt, etwas Bleibendes zu schaffen. 

Der letzte Prinz, ein opulenter Künstlerroman über die Entstehung des Weltbestsellers Der Leopard.

Wir haben mit Steven Price über seinen Roman gesprochen.

1. In Der letzte Prinz erzählen Sie von Giuseppe Tomasi di Lampedusa – der Letzte im einst mächtigen sizilianischen Adelsgeschlecht der Lampedusa und der Autor des Weltbestsellers Der Leopard (Originaltitel: Il Gattopardo, 1958). Wie kamen Sie auf die Idee, seine Geschichte zu erzählen?

Steven Price: Zum ersten Mal las ich den Roman als Student in meinen frühen Zwanzigern. Es war ein merkwürdiges Buch, so anders als alles, was ich zu der Zeit las. Ein Buch, das unter den ambitionierten jungen Schriftstellern, mit denen ich verkehrte, fast schon wie ein Geheimnis herumgereicht wurde. Sein Erzählfluss war anders und auch wie die Zeit darin benutzt wurde, und ich wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte, so seltsam war es. Aber Jahre später fiel mir der Der Leopard erneut in die Hände, und dann war ich besessen davon. Jedes Mal, wenn ich es las, fühlte es sich wie ein anderes Buch an – es veränderte sich, genauso wie ich mich veränderte. Vielleicht macht das ein Meisterwerk aus.

Ein Teil der Anziehungskraft des Romans liegt natürlich in seiner Veröffentlichungsgeschichte: ein Roman, spät im Leben verfasst und zu Lebzeiten des Autors abgelehnt, nach dessen Tod jedoch gefeiert. Ich wusste wenig über Giuseppe Tomasi di Lampedusa selbst, abgesehen von dem, was ich in den diversen Vorworten fand. Darin wurde der Autor ausnahmslos als ein Mann beschrieben, der so gut wie nichts mit seinem Leben anfing, bis es dann fast zu Ende war. Da setzte er sich plötzlich hin und verfasste ein Meisterwerk. Irgendwann stieß ich auf die einzige englischsprachige Biographie über Tomasi, geschrieben von David Gilmour. Begeistert las ich, dass Tomasi ein unglaublich reiches Leben gelebt hat: Er kämpfte im Ersten Weltkrieg, war in Gefangenschaft, bereiste Europa, hatte eine romantische Liebesaffäre mit einer lettischen Baronesse und so weiter. Ich stellte fest, dass ich sein Leben über seinen Roman legen konnte, strukturell meine ich, wie eine Art Palimpsest – eine Manuskriptseite, die man beschreiben, reinigen und dann neu beschreiben kann –, und dass dies etwas Wertvolles aussagte über die Kunst und das Leben und wie beides miteinander verbunden ist. Als ich das erkannte, sah ich meinen Roman Der letzte Prinz vor mir.

 

2. Sie halten sich im Roman äußerlich an die historisch verbrieften Fakten, geben jedoch auch bemerkenswerte Einblicke in Tomasis Innenleben. Wie haben Sie für Der letzte Prinz recherchiert? Und wie gelang es Ihnen, sich sprachlich so in diese Figur einzufühlen?

Steven Price: Tomasi ist in vielerlei Hinsicht ein nicht ganz exaktes Porträt meiner eigenen Ängste vor dem Scheitern in der Kunst und einem Leben im Schatten. Mein Mitgefühl für ihn liegt also zum einen in dieser geteilten Befürchtung. Zum anderen habe ich meiner Version von Tomasi auch meine eigenen Obsessionen mitgegeben: die Besessenheit mit der Vergangenheit, mit Erinnerung im Allgemeinen, all den Leben, die möglich gewesen wären, aber nicht gelebt wurden. Ich sage »meine Version«, da ich mir natürlich nicht anmaße, den wirklichen Tomasi in meinem Roman beschrieben zu haben. Es ist nur eine mögliche Version von ihm, eine ausgedachte. Auch wenn ich mich bemüht habe, mich an die historischen Aufzeichnungen zu halten – und trotzdem nicht bloß die bekannten Abschnitte seines Lebens zu wiederholen.

Natürlich bin ich nach Sizilien gereist, wo ich den Spuren Tomasis gefolgt bin und einige der Menschen getroffen habe, die ihn zu Lebzeiten kannten, zum Beispiel seinen Adoptivsohn Gioacchino Lanza (der eine der Hauptfiguren in meinem Roman ist). Als Gioacchino mir nach der Lektüre von Der letzte Prinz schrieb, dass mein Roman den Mann, den er gekannt habe, gut beschreibt, war das eine Erleichterung und eine Ehre. Ich habe mich sehr gefreut.

Die weiteren Recherchen waren etwas weniger theatralisch und umfassten vor allem die intensive Lektüre des Leoparden, der Biographie über Tomasi und von Büchern über Sizilien.

 

3. Wie oft haben Sie den Roman Der Leopard gelesen?

Steven Price: Oh, viele Male. Alle paar Jahre komme ich auf diesen Roman zurück. Es ist ein Buch, das mich nie losgelassen hat.

 

Foto: © Centric Photography

4. Der letzte Prinz ist ein Künstlerroman und zugleich Porträt einer Epoche, die zu den schillerndsten der italienischen Geschichte zählt. Was reizt Sie an der Vergangenheit, insbesondere an der Siziliens?

Steven Price: Ich bin mehr wegen des Romans Der Leopard und der herzzerreißenden Geschichte seiner Entstehung nach Sizilien gekommen als wegen der Insel selbst. Aber wie kann man in diese Insel nicht verliebt sein? Sie ist so kompliziert, so wundervoll, unendlich träge und gleichzeitig immer in Bewegung. Wenn es irgendeinen Ort auf der Welt gibt, an dem sich die Vergangenheit manifestiert, dann ist es Sizilien. Dorthin zu gehen heißt, wahrhaftig zu spüren, wie die Gegenwart von der Vergangenheit verfolgt wird, wie überwältigend sie ist und wie wenig wir letztendlich wissen.

 

5. Der Leopard wurde 1963 von Luchino Visconti mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon verfilmt. Hatten Sie beim Schreiben auch die Bilder aus dem Film im Kopf?

Steven Price: So ein wunderbarer Film. Ein Meisterwerk, das aus einem Meisterwerk gemacht wurde. Die Bilder und vor allem die Atmosphäre des Films haben mich auf eine indirekte Art während des Schreibens begleitet. Der Film ist natürlich ein Jahrhundert vor meinem Roman angesiedelt. Aber es gibt Echos einiger Szenen in meinem Roman – wenn Burt Lancaster in einen halbblinden Spiegel späht und darin sieht, wie er altern und seine Macht schwinden wird, und im Hintergrund findet ein eleganter, wirbelnder Ball statt. Diese Szene hat das letzte Kapitel meines Romans sehr geprägt, in dem Tomasi zu einer Party geht.

 

6. Ist der Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Roman geschrieben hat und verstarb, bevor dieser zum Weltbestseller wurde, ein Vorbild für Sie?

Steven Price: Nein, ein Vorbild ist er nicht. Sein Leben war so anders als meins. Aber als Künstler ist Tomasi vielleicht ein warnendes Beispiel – oder auch eine Beruhigung. Je nachdem, wie man es betrachtet. Er schrieb ein Meisterwerk, starb aber verzweifelt und in dem Glauben, es würde nie veröffentlicht werden. Ist das eine Geschichte über Enttäuschung und Scheitern? Oder eine Geschichte über Erlösung und Erfolg? Wenn ich Leser danach frage, dann antworten sie einstimmig, dass es eine Erfolgsgeschichte sei – sein wunderbarer Roman wurde am Ende doch gewürdigt. Aber für meine Schriftstellerkollegen ist es meist eine tragische Geschichte. Ich für meinen Teil glaube, es ist beides.

 

7. Werden Sie sich auch in Ihrem nächsten Roman eines historischen Stoffs annehmen?

Steven Price: Ich bin sogar schon mittendrin. Und ja, auch diese Geschichte ist in der Vergangenheit angesiedelt, auch wenn es vielleicht kein historischer Roman im klassischen Sinn ist. Zumindest im Englischen ist dieser Begriff immer konnotiert mit einem größeren Interesse für die Vergangenheit als für die Gegenwart. In meinen Romanen geht es aber immer auch um die Welt, in der wir jetzt leben, unabhängig davon, welche Zeit sie beschreiben. (Übrigens: Deutschland spielt im neuen Roman eine große Rolle!)

 

Steven Price, geboren 1976 in Victoria, British Columbia, ist ein kanadischer Lyriker und Autor. Seine Veröffentlichungen wurden mehrfach ausgezeichnet. Sein Roman Die Frau in der Themse erschien 2019 bei Diogenes. Er ist Dozent für Poesie und Literatur und lebt mit seiner Familie in Victoria.