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Vor hundert Jahren wurde einer der prägendsten Klassiker der deutschsprachigen Literatur veröffentlicht: Thomas Manns Der Zauberberg. In dem erzählenden Sachbuch Der Zauberberg, die ganze Geschichte nimmt Autor Norman Ohler uns jetzt mit auf eine Reise von den Anfängen von Davos hin zum World Economic Forum. Das Buch ist ein großes aktuelles Panorama der Geschichte des 20. Jahrhunderts und eine Hommage an das Schriftstellertum.
Im Interview spricht Norman Ohler über die Inspirationskraft des Klassikers von Thomas Mann, des Ortes Davos und über die Entstehung seines neuen Sachbuches.
Interview mit Norman Ohler
Was hat Sie am mondänen Alpenort Davos so fasziniert und zum Schreiben angeregt?
Ich hatte gar nicht vor, etwas über Davos und den Zauberberg zu schreiben, als ich im Winter 2023 mit meiner Tochter dorthin in die Skiferien fuhr. Doch dann hat die Magie des Ortes mich in Bann geschlagen – und ich verbrachte am Ende mehr Zeit in den Archiven dort als auf den Pisten!! Es ist einfach ein toller Ort, um die Fantasie auf Reisen zu schicken.
Zwischen Skihotel und Schneesturm – ist Ihr Zauberberg so entstanden wie im Buch geschildert?
Tatsächlich ist das Buch innerhalb eines einzigen Tages geboren worden. Meine Tochter war in der Skischule Davos, ich saß auf dem Balkon des Hotels Schatzalp – und plötzlich offenbarte sich mir das gesamte Sujet. Ein Moment der Inspiration … Ein seltenes Geschenk, und sofort habe ich mich an die Arbeit gemacht. Das Schreiben war dann eine reine Freude.
Urlaub mit der Tochter dort, wo die Gletscher schmelzen – was hat das in Ihnen ausgelöst?
Ich hatte im Vorfeld nicht darüber nachgedacht, sondern wollte einfach nur, dass meine Tochter das Skifahren lernt – eine der schönsten Sportarten überhaupt. Dass daran so viel ›hängt‹, wurde mir erst vor Ort klar – und hat dann in mir ein Nachdenken darüber ausgelöst, welche Welt wir unseren Kindern vererben, welche Werte wir ihnen mitgeben – und wie groß auch das Scheitern meiner eigenen Generation ist, denn der Welt geht es – nicht nur klimatisch – ja alles andere als gut. Es ist von daher ein Familienbuch geworden, eines, das Generationen überspannt.
Was hat Sie bei der umfangreichen Recherche zu Themen wie Tuberkulose, NSDAP-Auslandsorganisationen und WEF am meisten überrascht?
Dass vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein waschechter Kindersklavenhändler durch das damals bettelarme Davos tourte, um die Kinder ins wohlhabendere Deutschland zu verkaufen, das hätte ich wirklich nicht vermutet. Aber auch, dass Davos Schauplatz einer wichtigen jüdischen Widerstandsaktion gegen die Nazis war, fand ich äußerst spannend. Und die Tuberkulose-Pandemie erzählt ebenfalls viel über unsere Gegenwart, das war auch neu für mich.
Der geübte Blick wird es erkennen: Die Kapitelstruktur gleicht der von Manns Zauberberg – ein Zufall?
Mein Zauberberg spielt ganz bewusst mit Manns Zauberberg. Es ist ein Flirten zweier Bücher, die genau einhundert Jahre auseinanderliegen – aber im Grunde das gleiche Thema haben, nämlich den Untergang der Moderne. Mein Buch steht von daher auch auf den Schultern eines Giganten!
Der Klassiker feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum. Ist Der Zauberberg, die ganze Geschichte gar als Hommage an Thomas Mann zu lesen?
Mein Zauberberg, wie der von Thomas Mann, ist eine Hommage an den Geist, an das Schreiben, an die Kultur – und an alle Schriftsteller:innen. Unter diesen nimmt der von mir geliebte Thomas Mann eine herausragende Stellung ein. Mann hat mich nun schon seit fast 40 Jahren inspiriert – und vor allem sein Zauberberg.
Ein Interview mit Norman Ohler von Anne H. Kaiser
August 2024
© by Diogenes Verlag AG, Zürich
Der Zauberberg, die ganze Geschichte
Ein liebeskranker Erzähler reist mit seiner Tochter in das verschneite Davos. Aus dem »Familienurlaub« wird eine vergnügliche Reflexion über die Auswirkungen der Moderne, des Skifahrens und der Tuberkulosepandemie. Auch spürt er der Geschichte nach, wie aus dem bettelarmen Bergdorf das Symbol des globalen Reichtums wurde. Und wie in Thomas Manns ›Zauberberg‹ stellen sich auch ihm inmitten der Schneemassen die wirklich schwierigen Fragen: Wie müssen sich unsere Lebensweisen ändern? Welche Welt vererben wir unseren Kindern?
Norman Ohler ist freier Schriftsteller und lebt in Berlin. Er hat mehrere Romane und Sachbücher publiziert, stand mit Der totale Rausch auf der Bestsellerliste der New York Times und des Spiegels und ist Träger des Pfalzpreises für Literatur. Sein Werk ist in über 30 Sprachen übersetzt.