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»In Zukunft freue ich mich darauf, neue Perspektiven auszuprobieren.« Ein Interview mit Benedict Wells – Teil 2

Im Diogenes Interview sprach Benedict Wells über sein neues Buch Die Geschichten in uns und über seine Leidenschaft fürs Schreiben. Hier geht's zum ersten Teil des Interviews. Im zweiten Teil spricht er nun rückblickend über seine Erfahrung als junger Autor. Außerdem gibt er uns einen Ausblick darauf, was wir in Zukunft von ihm lesen dürfen – vielleicht ja eine Fortsetzung zu Hard Land?

Foto: © Roger Eberhard

Gibt es etwas, das Du mit den Erkenntnissen im Buch im Nachhinein bei Deinem Schreiben bedauerst? 

Benedict Wells: Ich habe zu spät kapiert, wie wichtig Nebenfiguren sind. Gerade in meinen ersten Romanen sind sie nicht gut genug ausgearbeitet, sowohl die weiblichen als auch die männlichen. Es ist zum Beispiel schwer, den Charakter von Frank aus der alten Version von Spinner zu beurteilen – weil er da nämlich keinen hatte. Dabei sind Nebenfiguren extrem wichtig. So erzählte mir jemand das Beispiel aus dem Fänger im Roggen und dass die Hauptfigur Holden Caulfield im Buch nie stärker herauskäme als in den Szenen mit seiner kleinen Schwester Phoebe. Das stimmt. Meine späteren Romane wie Vom Ende der Einsamkeit und Hard Land leben von nichts so sehr wie von den anderen Charakteren im Buch. Sie tragen die Geschichten.

Abgesehen von Short Stories hast Du meist männliche Helden gehabt. Hast Du mal überlegt, aus einer weiblichen Perspektive zu schreiben?

Benedict Wells: Ja, mich stört ehrlich gesagt, dass ich es noch nicht hinbekommen habe. Wobei es mir anfangs gar nicht auffiel. Bei meinen ersten vier Romanen bin ich so oft gescheitert, dass ich mir in dem Chaos kaum Gedanken über solche Muster gemacht hatte. Später habe ich bemerkt, dass ich meist über ähnliche Themen wie Einsamkeit und Verlust schrieb – mit einer männlichen Hauptfigur. Ich wollte das Muster ändern, war da aber auch bewusst zurückhaltend. Als Mann werde ich die Welt niemals vollständig aus der weiblichen Sicht erleben. Es hat immer etwas anmaßendes, fremde Perspektiven einzunehmen; wenn es unglaubwürdig ist, wird es zurecht kritisiert. Umso sicherer möchte ich mich fühlen, und bisher tat ich das noch nicht – auch, weil ich jung anfing: Die meisten Geschichten habe ich in meinen Zwanzigern entworfen, da ist es vielleicht normal, dass man sich erst mal an Perspektiven hält, die einem vertraut sind. Wäre ich eine Frau, hätten meine bisherigen Romane vermutlich alle eine weibliche Heldin gehabt, denn ich wollte beim Schreiben eigene Erfahrungen verarbeiten.

Hast Du es trotzdem mal mit einer anderen Perspektive probiert?

Benedict Wells: Ja, mit Mitte zwanzig wollte ich über eine jugendliche Ausreißerin schreiben, aber es hat mich noch nicht überzeugt. Es fehlten Details und Beobachtungen, die dem Text Seele verleihen. Also versuchte ich, mich heranzutasten. Bei Vom Ende der Einsamkeit etwa habe ich an nichts so intensiv gearbeitet wie an den weiblichen Charakteren. Habe sie mit Mitbewohnerinnen, meiner Schwester und Freundinnen diskutiert und sieben Jahre lang alles getan, um mich in diese Figuren einzufühlen. Und das Schöne an der Literatur ist ja eh: Man findet jede Sichtweise, jedes Thema, ohne dass eine Person das alles allein abdecken müsste. Ist man also auf der Suche nach starken weiblichen Perspektiven, kann man seine Aufmerksamkeit einfach so großartigen Werken wie Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher oder Mädchen, Frau etc. von Bernardine Evaristo schenken. Am Ende richtet sich Literatur ohnehin an unser universelles Menschsein. Ich lese oft Romane von Frauen mit weiblichen Heldinnen und erkenne mich darin selbst. Ich hoffe, dass das auch umgekehrt möglich ist.

Du sagst, dass Du sehr jung bei deinen ersten Büchern warst. War das im Rückblick ein Segen oder auch ein bisschen ein Fluch?

Benedict Wells: Es war ein Traum und ein Privileg, so jung verlegt zu werden, es hat mir sehr viel ermöglicht. Ich hatte auch das Gefühl, mich unter dem Druck des Veröffentlichens und durch die Arbeit mit einem Lektorat schneller zu entwickeln. Aber ich musste in dem Alter nicht nur als Autor erwachsen werden, sondern auch noch als Mensch. Als Teenager war ich zum Beispiel ein schüchterner Spätzünder und in meinen ersten Berlinjahren eher einsam. Mir fehlte deshalb manches an Erfahrung, was ich anfangs beim Schreiben kompensieren musste. Trotzdem habe ich schon damals versucht, diverse Geschichten zu erzählen.

Warum war Dir das wichtig?

Benedict Wells: Weil ich daran glaube und so aufgewachsen bin. Im Heim waren wir ein diverser Haufen, kamen auch von überall her, aber das hat nie eine Rolle gespielt. Es ging nur darum, wie man war. Ich wollte nicht, dass die Figuren in meinen Büchern immer nur weiß und heterosexuell sind; so ist die Wirklichkeit nicht. Aber natürlich habe ich bei meinen ersten Büchern den Ton nicht immer so getroffen, wie ich es mir heute wünschen würde. Hätte ich mich dann noch mit neunzehn oder zwanzig hingestellt und gesagt: »So, Leute, ich hatte zwar noch nie eine richtige Freundin, aber jetzt kommt der große Roman aus der Sicht einer Frau«, wäre ich vollends verrückt gewesen. Ich glaube, es ist gut, seine Grenzen zu respektieren. In Zukunft freue ich mich aber darauf, neue Perspektiven auszuprobieren – und zu sehen, ob und wie es funktioniert.

Bedeutet das, dass Du wieder Geschichten schreibst? Hast Du schon Ideen?

Benedict Wells: Momentan habe ich noch ein Jahr Studium, aber für danach plane ich Kurzgeschichten und ein Theaterstück über drei Schauspielerinnen, die nach einem missglückten Casting auf surreale Weise nicht mehr den Raum verlassen können. Ich möchte auch ein literarisches Sachbuch über den Umgang mit Tod und Trauer schreiben.

Und wie lange müssen Deine Leser:innen auf einen neuen Roman warten?

Benedict Wells: Ich habe eine Idee für einen Krimi-noir mit einer bipolaren Heldin. Die Geschichte wäre aber düster und eine Dystopie, und angesichts der bedenklichen Weltlage bin ich nicht in der Stimmung dafür. Dafür überlege ich, erst eine Fortsetzung zu Hard Land zu schreiben, schon weil ich die Figuren so vermisse. Ich zögere, denn das wäre zum hundertsten Mal ein Roman über Verlust und einen Roadtrip, mitsamt der vertrauten männlichen Perspektive. Ich glaube aber, es könnte eine sehr schöne Geschichte werden, erwachsener und tiefer als der erste Teil.

Du nennst die Weltlage bedenklich. Was macht Dir im Moment am meisten Sorgen?

Benedict Wells: Es bestürzt mich, wie viele Länder nach rechts abdriften, wie stark Antisemitismus, Rassismus und Hass auf Muslime zunehmen, wie nationalistisch viele Menschen wieder denken. Als hätte all das nicht immer nur Leid, Ausgrenzung und Krieg gebracht. Vor einigen Jahren habe ich mehrere Texte gegen die AfD geschrieben, aber nie hätte ich mir vorstellen können, wie schnell sich die damals befürchteten Entwicklungen vollziehen würden. Und das hier in Deutschland, mit unserer schrecklichen Vergangenheit. Doch auch im restlichen Europa wirkt es, als wäre die schützende Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit seinen sechzig Millionen Toten verblasst. Es gibt den Spruch, dass Geschichte sich nicht wiederholt, aber reimt. Wir müssen uns mit allem, was wir haben, gegen den Rechtsruck zur Wehr setzen. Mit unseren Stimmen bei den Wahlen, aber genauso mit unseren Stimmen in der Gesellschaft.

Gibt es Momente, in denen sich das alles auch auf Dein Schreiben auswirkt?

Benedict Wells: Ich bin kein dezidiert politischer Autor, versuche aber, in meinen Büchern ein humanistisches Weltbild zu vermitteln. Umso mehr, als ich gerade mit meinem Glauben an die Menschheit ringe. Doch ich glaube an den einzelnen Menschen. Und klar kann man sagen: Die Welt geht unter, wieso sollte man da als Erwachsener überhaupt noch so etwas Kindisches machen wie Geschichten erzählen? Aber am Ende ist es dieser kindliche, zuversichtliche Teil in uns allen, den es in diesen zunehmend düsteren Zeiten zu erhalten gilt – und der auch dafür sorgt, dass man sich wieder mit einer naiven Begeisterung an eine Geschichte setzt.

Du schilderst in Deinem Buch, wie Du 2007 zu Diogenes gekommen bist. Damals warst Du dreiundzwanzig und der jüngste Autor des Verlags, jetzt bist Du vierzig. Wie fühlst Du Dich beim Blick zurück?

Benedict Wells: Dankbar. Es ist verrückt, wie es seitdem lief und dass ich hauptberuflich Geschichten erzählen darf. Ich arbeite hart, aber ich weiß auch, dass ich einen Haufen Schwächen habe, seien es die angesprochenen wiederkehrenden Themen oder anderes. Umso schöner ist es, dass die Geschichten trotzdem von anderen Menschen angenommen oder gemocht werden. Es klingt platt, wenn man das sagt, aber: Dieser Zuspruch bedeutet mir sehr, sehr viel.

Und was hat sich in den siebzehn Jahren seitdem bei Dir selbst verändert?

Benedict Wells: Mit Mitte zwanzig wusste ich weder genau, was für ein Autor ich bin, noch was für ein Mensch. Damals half es mir, ins Ausland zu gehen. Ich hatte Angst vor diesem Schritt, doch der Umzug nach Barcelona hat vieles verändert. Ich habe dort fantastische Menschen getroffen und bin generell mutiger geworden, war später auch für längere Zeit in Amerika und in Paris. Das alles war unvorstellbar, wenn man sich überlegt, wie ich als Jugendlicher war, und das wurde mir speziell an meinem vierzigsten Geburtstag bewusst.

Inwiefern?

Benedict Wells: Ich bin ein Schaltjahrkind und wurde an diesem Tag vierzig und zehn zugleich, was mich vermutlich ganz gut trifft. Ich habe eine Party gefeiert, auf der meine verschiedenen Leben zusammenkamen. Meine langjährigen Freunde aus den Orten, an denen ich gelebt habe, meine neuen Freunde aus dem Studium, meine Schwester, viele Verwandte und meine damalige Freundin. All das ist in dieser Nacht zusammengeflossen, alle haben sich gut verstanden, auf Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch. Und ich konnte es natürlich überhaupt nicht genießen und hatte ständig Schiss, dass irgendetwas schiefgeht (lacht). Aber irgendwann, so um vier Uhr früh, war ich dann doch mal entrückt und hab auf die Tanzfläche geblickt. Auf die geliebten Menschen in diesem Raum. Ich habe an meine Eltern gedacht, die in den letzten Jahren leider gestorben sind, und sie vermisst, also waren sie auf gewisse Weise auch dabei. Und dann habe ich an schwierige oder depressive Jahre gedacht, und wie verdammt unwahrscheinlich mein Weg war, was für ein Glück ich hatte, denn vieles hätte anders ausgehen können ... Es hat sich also einerseits nichts verändert seit damals. Ich habe in mir noch immer die gleichen Macken wie seit meiner Kindheit und Jugend, die gleichen Ängste, Fehler und Unsicherheiten. Und zugleich hat sich alles verändert: Mein Umgang damit.

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Vom Schreiben und vom Leben

Ein Buch wie eine persönliche Begegnung. Benedict Wells erzählt von der Faszination des Schreibens und gibt einen tiefen Einblick in sein Leben, von seiner Kindheit bis zu seinen ersten Veröffentlichungen. Anhand eigener und anderer Werke zeigt er anschaulich, wie ein Roman entsteht, was fesselnde Geschichten ausmacht und wie man mit Rückschlägen umgeht. Ein berührendes, lebenskluges und humorvolles Buch – für alle, die Literatur lieben oder selbst schreiben wollen.


Hardcover Leinen
400 Seiten
erschienen am 24. Juli 2024

978-3-257-07314-0
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

Benedict Wells wurde 1984 in München geboren, zog nach dem Abitur nach Berlin und entschied sich gegen ein Studium, um zu schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vierter Roman, Vom Ende der Einsamkeit, stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste, er wurde u.a. mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) 2016 ausgezeichnet und ist bislang in 38 Sprachen erschienen. Sein letzter Roman, Hard Land, wurde 2022 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Nach Jahren in Barcelona lebt Benedict Wells in Zürich.