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»Um das Handeln und um das Entscheiden unter Ungewissheit, wie wir handeln sollen, kommen wir nicht herum.«
Ein Interview mit Bernhard Schlink

Bernhard Schlinks erstes Theaterstück 20. Juli –  Ein Zeitstück ist ein Lehrstück über Moral, Verantwortung und Entscheidung. Darin lässt er Schülerinnen und Schüler den Fragen nachgehen, ob sich Geschichte wiederholt und wann gehandelt werden muss. Der Autor im Diogenes-Interview mit Svenja Flaßpöhler (Chefredakteurin Philosophie Magazin).

Foto: Gaby Gerster / © Diogenes Verlag

Herr Schlink, in Ihrem Stück lassen Sie fünf Abiturienten und Abiturientinnen gemeinsam mit ihrem Geschichtslehrer über die Möglichkeit diskutieren, den charismatischen Anführer einer aufstrebenden, rechtsnationalen Partei zu töten. Ein heikles Gedankenspiel, und durchaus ein Wagnis, es zu inszenieren. Was hat Sie bewogen, dieses Wagnis einzugehen?

Vor drei Jahren wurde ich in der S-Bahn Zeuge eines Gesprächs, in dem drei Schüler, mit denen der Lehrer den 20. Juli 1944 und die Aufgabe, aus der Geschichte zu lernen, behandelt hatte, sich fragten, was sie eigentlich aus dem 20. Juli 1944 lernen sollten. Eine gute Frage. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus spielt in der Schule eine große Rolle, und sie will nicht nur Wissen vermitteln, sondern zum Eintreten für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und zum Einsatz für die Menschen erziehen, die von Ausgrenzung und Gewalt bedroht sind. Wozu will dabei die Beschäftigung mit dem 20. Juli erziehen? Wozu fühlen sich die Schüler angespornt? Ich hätte mich umdrehen und die Schüler ansprechen sollen. So habe ich nur mitbekommen, dass sie den hohen moralischen Ton, den der Lehrer angeschlagen hatte, ein bisschen nervig fanden.

Sie haben für die Behandlung des Themas Tyrannenmord nicht etwa die Form des Essays, sondern die Form des Dramas gewählt. Warum?

Tyrannenmord? Mich interessiert nicht das alte Problem, ob Offiziere und Soldaten das Volk vom Tyrannen befreien dürfen, dem sie einen Eid geleistet haben, oder ob das göttliche Gebot »Du sollst nicht töten« den Anschlag auf den Tyrannen kategorisch verbietet. Es ist gestrig. Die jüngste Geschichte hat so furchtbare Tyrannen hervorgebracht, dass sich bei ihnen nicht mehr die Frage nach dem Recht, sondern die nach der Pflicht zum Anschlag stellte und praktisch die nach der Möglichkeit – heute kann man sich nicht mehr mit dem Dolch im Gewand zum Tyrannen schleichen, sondern muss das System überwinden, mit dem er sich umgeben und gesichert hat. Warum Stück statt Essay? Mich interessierten die Schüler. Wie könnte ihr Gespräch weitergegangen sein, zu was für Auseinandersetzungen könnte es geführt, was für ein Ergebnis könnte es gehabt haben.

20. Juli stellt die Gegenwart in ein historisches Licht. Warum gerade jetzt dieser Bezug zum missglückten Attentat auf Adolf Hitler im Jahr 1944?

Die Möglichkeit, in die für einen Anschlag erforderliche Nähe zu Hitler zu gelangen, ohne zu seinem Gefolge zu gehören, gab es noch 1932, danach nicht mehr. Wehret den Anfängen – gehört nicht auch das zu den Einsichten, die die Geschichte und die Schule lehren? So fragen denn die Schüler und Schülerinnen im Stück, ob Hitler nicht 1932 ermordet gehört hätte, und sie fragen weiter, wo wir angesichts der weltweiten Zunahme autoritärer Visionen, Programme und Politiker heute stehen. Wie, wenn es einen charismatischen, erfolgreichen rechten Politiker, wie es ihn in anderen Ländern gibt, auch bei uns gäbe? Wann wäre jetzt das Jahr 1932, in dem er noch gestoppt werden könnte?

Ihre Figuren erwägen das Für und Wider einer sofortigen Tötungsaktion, ein wichtiger Punkt dabei ist die Ungewissheit. Lässt sich überhaupt präventiv in den Geschichtsverlauf eingreifen, wenn dieser doch nie mit letzter Gewissheit vorhersehbar ist?

Greift nicht alles Handeln in Verläufe ein, im Kleinen wie im Großen? Wenn wir nicht handeln, verläuft das Geschehen anders, als wenn wir handeln. Und wenn wir der Folgen unseres Handelns noch so gewiss sind, können wir uns irren. Um das Handeln und um das Entscheiden unter Ungewissheit, wie wir handeln sollen, kommen wir nicht herum. Je größer die Ungewissheit ist und je wertvoller die Güter sind, die beim Handeln auf dem Spiel stehen, desto schwerer ist die Entscheidung. Die Schüler und Schülerinnen des Stücks stellen sich gewiss einer besonders schweren Entscheidung.

Eine weitere zentrale Frage in Ihrem Stück lautet: Kann eine Tat, die an sich böse ist, unter bestimmten Voraussetzungen zu einer guten, integren, notwendigen werden? In philosophischen Kategorien könnte man vom Konflikt zwischen einer Kantischen Gesinnungsethik und einer utilitaristischen Verantwortungsethik sprechen. Welche Antwort geben Sie in 20. Juli

Die Schüler und Schülerinnen kommen zu der Auffassung, der Anschlag sei notwendig, und sie dürften ihn auch integer finden, weil niemand von ihnen sich aus Eigennutz für ihn entscheidet. Aber sie glauben nicht, er sei eine gute Tat. Sie reden davon, dass sie sich die Hände schmutzig machen – philosophisch geht es um die Frage, ob in manchen Situationen verantwortliches Handeln schuldhaftes Handeln sein muss. Kant hat sie verneint, Bonhoeffer, Vertreter einer gesinnungsgetragenen Verantwortungsethik, hat sie bejaht; für ihn war die Bereitschaft zu Schuldübernahme aus Verantwortung der Preis der Freiheit, die nicht im Möglichen bleibt, sondern das Wirkliche ergreift.

»Die Schule hinter uns, Ferien und Studium vor uns, ein wunderschöner Sommerabend – aber um uns herum brennt es.« Aus: 20. Juli

Das eigene Leben aus politischen Gründen aufs Spiel zu setzen kann eine hehre Tat, aber auch ein Verbrechen sein; man denke an die fanatisierten Selbstmordattentäter unserer Zeit. Besitzt das Privatinteresse – für das am deutlichsten wohl der Geschichtslehrer Gertz steht – so gesehen auch eine Schutzfunktion?

Dass Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, macht das, wofür sie es tun, wenn es schlecht ist, nicht gut, und wenn es gut ist, nicht besser. Je seltener Menschen meinen, es müsse sein, desto besser. Wenn Menschen in der Welt ihren Ort, ihre Sicherheit, ihre Freude haben, ist das gewiss ein Schutz gegen Fanatisierung und Radikalisierung – vielleicht der beste Schutz.

Die sensibelste Figur in 20. Juli ist die Abiturientin Maria, die keinen Abstand zwischen sich und der Welt zu schaffen vermag, sich von allem angefasst fühlt. Sie ist es, die sich im Zuge des Stücks am konsequentesten radikalisiert. Warum?

Ist bei besonders Sensiblen, die das Falsche und Schlechte nicht von sich abtun können, die von ihm besonders herausgefordert und besonders gequält werden, dessen radikale Ablehnung nicht eine verständliche Reaktion? Ich habe solche Radikalisierungen in meinem sozialen Umfeld in den frühen 1970er Jahren erlebt, und Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin sind prominente Beispiele.

Fabian hingegen ist ein Spieler. Er erwägt und verwirft, hält alles in der Schwebe, liebt die Leichtigkeit des Möglichen. Erkennen Sie sich als Schriftsteller in ihm wieder?

Das ist bei einem Stück nicht anders als bei einem Roman oder einer Geschichte: Ich erkenne in allen Beteiligten etwas von mir wieder. Ich könnte anders nicht über sie schreiben.

»Der Alte« ist eine Nebenfigur, die zu Ihrer Generation gehört und Verantwortung übernimmt für die derzeitige Krise der Demokratie. Ist das auch Ihre persönliche Auffassung? Wenn ja, was haben Sie versäumt?

Das ist eine Frage, die mich immer wieder beschäftigt – wie sollte das in meinem Alter auch anders sein. Meine Generation hat alte Zöpfe abgeschnitten, staatliche und gesellschaftliche Institutionen durcheinandergewirbelt, Strukturen aufgebrochen, sie hat an allen Autoritäten gerüttelt und viele vom Sockel gestoßen, sie hat dabei einen Individualismus kultiviert, der oft schlicht zu Egoismus und Narzissmus geraten ist. Ich frage mich, ob wir genug geschaffen und gestaltet haben, das Bestand hat und Halt gibt.

Sie selbst wurden im Jahr des Hitler-Attentats geboren. Was, würden Sie sagen, ist es, das Sie der jungen Generation von heute mit auf den Weg geben möchten?

So furchtbar die letzten Jahre des Dritten Reichs mit Krieg und Holocaust waren – auf andere Weise nicht weniger erschreckend bleibt für mich sein Beginn. Wie dünn war das Eis, das Staat und Gesellschaft trug, wie rasch und leicht wurden die staatlichen Institutionen zerschlagen, wie bereitwillig ließen die gesellschaftlichen Institutionen sich gleichschalten, wie hilflos waren die Einzelnen, die widerständig bleiben wollten, ohne den Rückhalt von Institutionen! Politisch wünsche ich der jungen Generation, dass sie den Wert unserer staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen sieht, sich für sie einsetzt, sich in ihnen engagiert – von Universitäten, Kirchen, Gewerkschaften bis zu politischen Parteien. Sollte die weltweit wachsende Welle des Autoritären Deutschland erreichen und bedrohen, braucht es starke Institutionen, die Bestand haben und Halt geben – Sie sehen, wie meine Antworten auf Ihre letzten beiden Fragen miteinander zusammenhängen.

20. JulieBook