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»Schreiben war meine Rettung.« Ein Interview mit Benedict Wells – Teil 1

Nach seinem Roman Hard Land legte Benedict Wells eine Pause vom Schreiben ein – jetzt gibt es ein neues Buch und wir freuen uns riesig! In Die Geschichten in uns gewährt uns der Autor einen sehr persönlichen Einblick in sein Leben und erzählt von seinem Aufwachsen bis zu den ersten Veröffentlichungen. Im Gespräch mit ihm erfahren wir, wie es dazu kam, dass er nach einer längeren Pause zum Schreiben zurückgefunden hat, was ihm schwerfiel und welche Erkenntnisse er dabei gewinnen konnte. Den ersten Teil des Interviews gibt es jetzt zu lesen.

Foto: © Roger Eberhard

Du hast nach Deinem letzten Buch angekündigt, eine Pause zu machen und vorerst keine Romane zu schreiben. Stattdessen hast Du ein Studium angefangen. Wie kam es dazu und wie gefällt es Dir? 

Benedict Wells: Nach zwanzig Jahren Schreiben wollte ich eine Auszeit. Einerseits habe ich gemerkt, dass ich ausgelaugt war und die Leidenschaft verloren hatte, und ich wollte nicht irgendwelche Romane in die Welt setzen, die mir nichts bedeuten. Andererseits hatte ich Lust, etwas Neues zu lernen. Ich dachte, ich studiere ein Semester, aber jetzt sind es schon zwei Jahre. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Ich werde es sehr vermissen, wenn ich fertig bin. 

Was studierst Du?

Benedict Wells: Das möchte ich erst mal für mich behalten. Ich kann nur sagen, dass ich schon für Soziologie und Philosophie eingeschrieben war – bis ich fast zufällig zu meinem jetzigen Studium kam, das künstlerischer ist. Ich war oft in meinem Leben der Jüngste, es ist spannend, nun einer der Älteren zu sein, und ich bin dankbar, dass ich das alles so machen darf: also mich noch mal so aufs Spiel setzen, neue Freundschaften schließen, Fehler machen, lernen, dazu all die verrückten Abende und Momente … Manchmal glaube ich, dass das alles schon eine Art Midlife-Crisis ist, aber wenn, dann ist es die beste Midlife-Crisis, die ich mir vorstellen kann. 

Aber ganz vom Schreiben konntest Du dann doch nicht lassen … 

Benedict Wells: Ja, fast ungewollt. Ich habe seit der Abgabe von Hard Land vor knapp vier Jahren keinen neuen Roman angefangen und wollte auch sonst nichts schreiben. Doch Die Geschichten in uns kam einfach zu mir, wie man im Buch lesen kann. Und plötzlich hatte ich wieder Leidenschaft. Zudem muss man für ein Sachbuch – anders als bei einem Roman – die Wirklichkeit nicht für eine fiktive Welt eintauschen. 

Im Vorwort erwähnst Du, wie vor Jahren die ersten Seiten dieses Buches entstanden sind, sozusagen als Antworten auf kluge Fragen zu Deinen Romanen. Kannst Du uns mehr darüber erzählen, warum Du Dich entschieden hast, in dieser sehr persönlichen Form über das Schreiben zu schreiben?  

Benedict Wells: Ich glaube, ich kann nichts schreiben ohne meine persönliche Perspektive. Keinen Roman, kein Sachbuch. Deshalb waren auch neutrale Essays nie meins. Wobei ich mir diesmal dachte: Es reicht doch, dass ich selbst durch meine Kindheit und Jugend durchmusste, um zum Schreiben zu gelangen – müssen die Leser:innen jetzt auch noch da durch? Doch ich brauche diesen persönlichen Blick, und ich wollte so ehrlich und offen sein, wie es mir möglich ist. 

Du hast Deinem Buch ein Zitat von Wittgenstein vorangestellt: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Was hat es damit auf sich für dich? Wie verstehst Du diesen Satz? 

Benedict Wells: Als ich mit dem Schreiben anfing, war ich mir selbst ein Unbekannter. Ich wusste nichts von meinen wahren Gefühlen, weil mir die Worte dafür fehlten. Als Jugendlicher war ich traurig, verloren, unsicher, aber ich hätte das alles niemals so formulieren können. Auf Fragen wie »Wie geht’s dir?« hätte ich nur gegrinst oder tausend falsche Antworten gegeben, denn ich hatte keine Sprache für mich. Der Roman Vom Ende der Einsamkeit wurde mein erster richtiger Versuch, diese Sprache zu finden. Er hat auf gewisse Weise mein Leben verändert und meine Gefühlswelt geweitet. Bei Hard Land wollte ich dann noch mal ganz bewusst zurückgehen und dem jugendlichen Sam die Worte geben, die ich selbst als Teenager nicht hatte.  

Du hast immer wieder andere Werke und Anleitungen zum Schreiben gelesen, die Du virtuos in deinen Text einbaust. Wo würdest Du Dein Buch in dieser Literatur verorten? Und warum bleibt Stephen Kings Das Leben und das Schreiben nach wie vor die Bibel des Schreibens für Dich?

Benedict Wells: Ich wollte etwas schreiben, das alle anspricht, die sich für Literatur begeistern, und das zugleich denen etwas an die Hand gibt, die selbst schreiben wollen. Stephen King hat all das wunderbar gemacht, finde ich. Weil er zuerst von sich selbst erzählt, von seiner Leidenschaft für das Erzählen, wie er aufwuchs, zum Schreiben kam, scheiterte und jahrelang abgelehnt wurde. So dass man weiß, wer einem im Folgenden Ratschläge oder konkrete Einsichten gibt. Zugleich bin ich selbst nur eine Antwort auf die Frage: »Was ist Schreiben?« Deshalb wollte ich immer wieder auch die Stimmen von anderen einfließen lassen. 

Weißt Du, wie viele Bücher Du insgesamt für dieses Werk gelesen hast?

Benedict Wells: Knapp sechzig. Darunter großartige Werke wie Big Magic von Elizabeth Gilbert, The Writing Life von Annie Dillard, Bei Regen in einem Teich schwimmen von George Saunders und immer wieder die fantastischen Essays von Zadie Smith. Ich habe versucht, spannende und erhellende Auszüge daraus einzubauen, denn ich wollte, dass das Buch ein vielstimmiger Chor wird. So dass jemand, der sich für dieses Thema interessiert, im besten Fall immer wieder fündig wird. Entweder bei mir oder bei anderen.

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Die Geschichten in uns

Vom Schreiben und vom Leben

Ein Buch wie eine persönliche Begegnung. Benedict Wells erzählt von der Faszination des Schreibens und gibt einen tiefen Einblick in sein Leben, von seiner Kindheit bis zu seinen ersten Veröffentlichungen. Anhand eigener und anderer Werke zeigt er anschaulich, wie ein Roman entsteht, was fesselnde Geschichten ausmacht und wie man mit Rückschlägen umgeht. Ein berührendes, lebenskluges und humorvolles Buch – für alle, die Literatur lieben oder selbst schreiben wollen.


Hardcover Leinen
400 Seiten
erschienen am 24. Juli 2024

978-3-257-07314-0
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

Du versuchst, bei Deinen Beispielen vor allem Autorinnen zu berücksichtigen. Hat das einen Grund? 

Benedict Wells: Ich wollte es mindestens ausgeglichen halten. Es ist der größte Lesefehler meines Lebens, dass ich erst mit Ende zwanzig begriff, dass ich bis dahin unbewusst eigentlich fast nur Männer gelesen habe. Ich wünschte, ich hätte das schon früher geändert, denn ich habe als Autor wie als Mensch unfassbar davon profitiert, vielfältiger zu lesen. 

Dein Buch ist eine große Ermutigung zum Schreiben. Gibt es Dinge, die Du über Dich und Dein Schreiben gelernt hast, die Dir vorher überhaupt nicht klar waren? 

Benedict Wells: Vielen Dank. Ich glaube, ich habe besser verstanden, wieso manches funktioniert hat – und anderes nicht. So hadere ich seit Jahren mit meinen ersten drei Romanen, aber nun wollte ich herausfinden: Wieso genau? Was waren die Schwächen dieser ersten Romane, wieso fehlte es ihnen an Tiefe, warum scheiterte ich teils damit, überzeugende Konflikte aufzubauen oder ein bestimmtes Gefühl zu vermitteln? Oder genereller gedacht: Worin unterscheidet sich eine fiktionale Welt von der wirklichen Welt, welche anderen Regeln gibt es dort? Und wie erzeugt man Spannung oder fesselnde Charaktere? Diese Fragen hatte ich mir nie bewusst gestellt, das Schreiben lief intuitiv ab. Umso faszinierender war es für mich, ihnen nun anhand eigener und anderer Werke konkret nachzugehen. 

Der Untertitel Deines Buches lautet: Vom Schreiben und vom Leben. Hat für Dich das Schreiben Vorrang vor dem Leben? 

Benedict Wells: Schreiben war meine Rettung, war mein – ‘tschuldigung – Weg raus aus der ganzen Scheiße, aus der inneren Einsamkeit, aus dem Schmerz, aus dem Bruch zwischen meiner großen Klappe und dem Schweigen, das ihr zugrunde lag. Und es gab Momente, wo ich dem Schreiben alles unterordnete und besessen an den Texten feilte, um es hinzukriegen. Vor allem in den Jahren nach der Schule, als ich – anders als meine Freunde – nicht studierte, sondern tagsüber arbeitete und nachts schrieb. Auch in Ferien und an Weihnachten saß ich oft an den Romanen oder war physisch anwesend, aber mit dem Kopf in einer anderen Welt. Seit Mitte zwanzig habe ich da aber eine bessere Balance. Und ich habe das Glück, inzwischen wirklich viele wunderbare Menschen in meinem Leben zu haben. All das gleicht das Schreiben mit dem Leben aus. 

Du erzählst von den chaotischen Verhältnissen bei Deinem Vater und wie Deine Mutter immer wieder in Psychiatrien war, während du mit sechs Jahren in ein Heim kamst. Würdest Du sagen, dass diese Zeit und die Internate Dein Schreiben beeinflusst haben? 

Benedict Wells: Ich musste mich früh um meine Eltern kümmern und bin nie zu Hause zur Schule gegangen, das hat mich als Erzähler sicher geprägt. Zugleich hat es mich auch von anderen entfremdet. Es dauerte, bis ich begriff, dass die meisten Menschen in meinem Leben anders aufgewachsen sind als ich. Kürzlich habe ich zum ersten Mal nach dreißig Jahren mein altes Grundschulheim besucht und kam auch in Kontakt mit heute erwachsenen Kindern von damals. Das hat mich aufgewühlt und berührt, es bedeutet mir mehr, als ich sagen kann. Ich habe im Laufe der Jahre eine Geschichte aus dieser Zeit gemacht, aber es ist keine Geschichte. Tief in mir bin ich vieles, aber mit am meisten bin ich der Sechsjährige damals in diesem Heim. 

Du schreibst, dass Du Deine eigene Geschichte lange Zeit nicht erzählen konntest. Sind Dir diese tiefe Selbsterkundung – wie schreibt Benedict Wells und warum? - oder der Blick in die Vergangenheit schwergefallen? 

Benedict Wells: Ja, aber am Ende war es auch eine Befreiung. Mein Aufwachsen war schief und ein Stück weit traumatisch, aber ich habe nun mal nichts anderes. Es ist mein Leben. Und ich kann nicht aufrichtig über meinen Weg zum Schreiben berichten, ohne ein paar Realitäten zu benennen. Außerdem gab es ja auch das Positive: Das Grundschulheim war ein guter Ort für mich, dazu haben meine Eltern mich bei allen Problemen immer geliebt und ermutigt. Mein Vater und ich waren uns bis zuletzt wahnsinnig nahe, und – das kommt in diesem Buch über die Anfänge etwas zu kurz –, meiner Mutter ging es in ihren letzten Jahren besser. Ich habe sie damals oft besucht, dann haben wir zusammen gekocht und gegessen und stundenlang über alles Mögliche geredet. Diese innigen Begegnungen bedeuten mir sehr viel und bleiben mir. Auch deshalb wollte ich über das alles schreiben.

Inwiefern?

Benedict Wells: Früher wurden Menschen mit psychischen Krankheiten – wie meine Mutter sie hatte – gesellschaftlich oft totgeschwiegen. Ich will das nicht fortführen. Meine Mutter war hier, sie war schlau und fröhlich, konnte sich an kleinsten Dingen erfreuen und war gewieft im Jassen. Ich habe sie sehr geliebt. Und daneben hatte sie eben eine Krankheit, die Wunden reißen konnte und früh Verantwortung mit sich brachte, und die man heute zum Glück besser behandeln kann. Es gibt noch immer kaum Geschichten über bipolare Störungen, ich wollte deshalb als Autor nicht schweigen, sondern zeigen, dass es bei aller Schwierigkeit auch immer das Schöne geben kann; die Annäherung nach schmerzhaften Phasen und das Verständnis, die guten Momente und das Liebevolle. Und zugleich habe ich versucht, Angehörigen wie mir damals eine Stimme zu geben. Denn als Kind von Menschen mit psychischen Krankheiten kann es passieren, dass man mit seinen eigenen Verletzungen erst mal irgendwo weit draußen in der Sprachlosigkeit strandet. Umso mehr hat es mich inspiriert, wenn andere offen über die Widrigkeiten in ihrem Leben erzählten. Das bestärkte mich.

Gab es trotzdem eine besondere Schwierigkeit bei diesem Buch?

Benedict Wells: Alles in das richtige Verhältnis zu setzen. Das Manuskript hatte mehrere Fassungen mit teils unterschiedlicher Länge, gerade, was den Fokus auf meine Familie angeht. Über meine Eltern hätte ich viel mehr erzählen können, allein schon über die Herkunft meines Vaters und die Vergangenheit meiner deutschen Familie. Aber dann hätte ich auch über meine Schweizer Mutter mehr erzählen müssen, um die Balance zwischen meinen Eltern zu halten. Und dann entsprechend mehr über meine Schwester und mich. Irgendwann wäre es unmöglich gewesen, von dort aus noch eine Brücke zu einem Buch über das Schreiben zu schlagen. Es wäre ein völlig anderes Werk geworden. Ich musste mich also zurückhalten und auf das Wesentliche konzentrieren, anderes nur andeuten. Auch wenn es mir schwerfiel.

Hast Du vor, hier eines Tages weiterzugehen und zum Beispiel Deine Kindheit und Jugend autobiografisch aufzuarbeiten?

Benedict Wells: Als Autor befinde ich mich gefühlt auf dem Rückweg. Es kann sein, dass ich nicht mehr allzu viele Romane schreibe, eher andere Genres und Stoffe. Und einer davon könnte meine eigene Geschichte sein. Im Buch habe ich wie gesagt nur die Metadaten geschildert, aber nicht die Szenen selbst. Ich habe noch nicht den Ton dafür, den Abstand, die Perspektive und die literarische Sprache. Ich warte also einfach mal, und vielleicht geht das Tor eines Tages auf. Aber selbst dann weiß ich nicht, ob ich es auch veröffentliche. 

In der Danksagung erwähnst Du einige andere Autor:innen. Hast Du mit ihnen über das Schreiben diskutiert?

Benedict Wells: Ja, ich liebe solche Gespräche. Ich bin immer wieder erstaunt, wie anders wir alle an das gleiche Thema herangehen. John Irving etwa schreibt seine Enden zuerst, auch ich muss vorher wissen, wie die Geschichte ausgeht. Simone Lappert dagegen kennt den Schluss oft selbst nicht, wenn sie einen Roman beginnt, auch Zadie Smith und Stephen King arbeiten so. Solche Unterschiede gibt es bei fast allen Themen. Auch dem wollte ich im Buch nachgehen. 

Hier geht's zum 2. Teil des Interviews


Benedict Wells wurde 1984 in München geboren, zog nach dem Abitur nach Berlin und entschied sich gegen ein Studium, um zu schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vierter Roman, Vom Ende der Einsamkeit, stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste, er wurde u.a. mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) 2016 ausgezeichnet und ist bislang in 38 Sprachen erschienen. Sein letzter Roman, Hard Land, wurde 2022 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Nach Jahren in Barcelona lebt Benedict Wells in Zürich.

Ida T.

Vielen Dank für das tolle Interview. Ich habe das Buch zwar noch nicht gelesen, aber ich freu mich schon sehr darauf.
Vielen Dank an Benedict Wells, dass wir an seinen Leben teil haben dürfen, für das Sichöffnen, das Zeigen der wunden Stellen, die die meisten doch eher zu verbergen versuchen.
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