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10. Todestag von Urs Widmer – Wiederentdeckung seiner frühen Erzählungen

Urs Widmer begann als Verlagslektor für den Walter Verlag und den Suhrkamp Verlag, wurde dann mit seinem Erstling, der Erzählung Alois, selbst zum Autor und rief 1969 zusammen mit anderen Lektoren den ›Verlag der Autoren‹ ins Leben. Er wurde 75 Jahre alt und starb heute vor zehn Jahren, am 2. April 2014.

Im Nachruf auf den Schweizer Schriftsteller schrieb Sandra Kegel: »Urs Widmer besaß die seltene Gabe, mit seinen Büchern literarische Phantasien zu entwerfen, die zugleich das Zeug zum Bestseller hatten« (Frankfurter Allgemeine Zeitung am 3. April 2014). Wir gedenken Urs Widmer und lesen sein Werk heute wie damals. Daher freuen wir uns besonders über die Neuerscheinung Wild Herbeigesehntes, mit der wir in das Frühwerk des Autors eintauchen. Es beginnt mit der Erzählung Das Normale und die Sehnsucht, die, zusammengesetzt aus zwei Teilen, eine Reihe tief gehender Fragen über das scheinbar Normale aufwirft, und anschließend in eine sehnsuchtsvolle Naturerzählung entführt.

Lassen Sie sich hineinziehen in den angenehmen Sog dieser Erzählung und verweilen Sie – wenn Sie mögen –einen Moment bei Urs Widmer.

Foto: © Isolde Ohlbaum

Leseprobe: ›Das Normale und die Sehnsucht‹ - Teil a

Ist es eine Binsenwahrheit zu sagen, dass das, was normal ist, eine Abmachung ist? Hilft es uns etwas, zu wissen, dass in andern Gesellschaften, zu andern Zeiten, das, was für uns unverrückbar aussieht, zu den undenkbaren Dingen gehört? In welchem Maß ist die Wirklichkeit das, was wir denken, es sei die Wirklichkeit? Wie reagieren wir darauf, dass wir, obwohl diese Wirklichkeit wie eine nasse Seife nicht recht zu fassen ist, mit der Notwendigkeit ausgerüstet sind, uns an das Geflecht der Spielregeln anzupassen, das wir bei unserm Erscheinen auf der Welt vorfinden? Ist unsre individuelle Entwicklung nur ein Anpassungsprozess? Wie gern, wie ungern geben wir mehr und mehr die privaten Bedeutungen unserer Kinderwörter zugunsten des gemeinsamen Nenners auf, auf den sich die vielen vor uns schon geeinigt hatten? Ist die Sprache ein Anker, mit dem wir uns in der Außenwelt festhalten? Geben wir mit dem Annehmen von Sprache vor allem auch zu erkennen, dass wir bereit sind, die Realität und deren Spielregeln zu akzeptieren? Sind die elementarsten Gedanken, Sehnsüchte, Gefühle außerhalb der Sprache angesiedelt? Kollidieren die Sehnsüchte mit der Wirklichkeit? Lernen wir nur widerwillig, dass der Lehrer, wenn er »Öffnet die Bücher« sagt, damit ausdrücken will, dass wir die Bücher öffnen sollen? Kränkt es uns, dass wir uns auf Konzepte, die von den vielen andern und jedenfalls nicht von uns kommen, überhaupt einlassen müssen? Geben wir dem Druck von außen nach, weil wir gar keine andere Wahl haben, und verschließen wir uns dann schnell dem Gedanken, dass unsre Autonomie dadurch eine relative geworden ist? Hilft uns die Gesellschaft nur dann beim Überleben, wenn wir uns dafür in unsern Entschlüssen, Gedanken, Gefühlen von ihr beeinflussen lassen? Werden Ideologien als Betrachtungsmodelle einer gesellschaftlichen Wirklichkeit erkannt? Oder erheben sie in der Praxis bald einmal einen Ausschließlichkeitsanspruch? Wollen sie, dass wir sie für die ganze Wirklichkeit halten? Sollen wir, aus welchen Gründen auch immer, weiterhin im Zirkel unserer sieben Gedanken rotieren? Kann die Sprache unversehens zu einem Schutzgitter werden, an das sich die Beteiligten krallen? Bietet ein Sprachsystem, das sich vor die Wirklichkeit schiebt, Vorteile, die die Wirklichkeit nicht haben kann? Ist es, weil diese Sprache statisch, klar und überschaubar ist, während die Wirklichkeit dynamisch, fluktuierend und wenig fassbar bleibt? Soll diese Sprache nicht ein optimales Kommunikationsinstrument sein, sondern vor allem ein Schutz vor den diffusen Manifestationen der Außenwelt? Ist für den Ängstlichen die Ideologie eine Lebenshilfe, weil er sich so sicher in ihr fühlen kann? Kann das Kommunikationssystem zu einer Art Versicherung auf Gegenseitigkeit pervertiert werden, zu einer stillschweigenden Abmachung, dass alles so ist, wie man es sagt? Verursacht jemand, der etwas ›anderes‹ sagt (oder gar tut), deshalb heftige emotionale Reaktionen, weil er demonstriert, dass das ganze mühsam errichtete System der Ordnungen durchbrochen werden kann? Erinnert er daran, dass die Kommunikation zwischen den Menschen zusammenbrechen könnte? Ist das sogenannte Genie wirklich dem Wahnsinn nahe? Spielen sich die Vorstöße in irgendein Neuland (in der Wissenschaft, in der Kunst) in einem Grenzland zwischen dem Wahnsinn in uns und der bewussten, gesicherten Realität ab? Ist es ein Zufall, dass das Konzept der ›Kreativität‹ wie das des ›Genies‹ nicht viel mehr als ein Wort geblieben ist? Schützt das Konzept von den ›Kreativen‹ und ›Genialen‹ nicht vor allem vor der Bedrohung, die von denen auszugehen scheint, denen Veränderungen keine Angst machen? Sind Begriffe wie ›Kreativität‹, ›Genie‹, ›Kunst‹ als eine Abwehr derer entstanden, die Angst vor der Veränderung der Wirklichkeit haben? Unterscheidet sich der sogenannt ›Kreative‹ vom sogenannt ›Normalen‹ vor allem dadurch, dass er dessen Angst vor dem, was unvertraut ist, nicht hat? Ist das mit der bekannten Verwirrung vergleichbar, die man empfinden kann, wenn man vor einer bizarren Erscheinung steht, und mit der Erleichterung, wenn man dann hört, dass sie als Kunst anzusehen sei?
Könnte jeder kreativ arbeiten, der die Angst überwunden hat? Wären das dann Beutezüge irgendwo an der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren? Ist dann für die nächste Generation das, was eben noch ›wie Wahnsinn‹ war, ›normal‹? Oder ist der Begriff der Kreativität in der Praxis unserer Gesellschaft längst zum Gegenteil dessen, was er ursprünglich bedeutete, pervertiert? Meint er nun eine besonders entwickelte Begabung, die schon angelegten Trends zu verlängern? Ist er ein Euphemismus für besonders gute Anpassung an die Konzepte der Leistungsgesellschaft geworden? Wird heute kreativ geheißen, wer die Normen just nicht infrage stellt, sondern innerhalb der Gesellschaftskonzepte die Maschinerie funktionstüchtig erhält, durch einen Handgriff hier, einen Tropfen Öl da?
Spiegelt die Kunst dagegen vor allem die triste Tatsache, dass die menschliche Fantasie und die Wirklichkeit auseinanderklaffen? Entwickelt sie insgeheim die wahnsinnige Hoffnung, den Graben zwischen Wunsch und Realität zuzuschütten: sozusagen die Entfremdung abzuschaffen? Ist die Entfremdung das Thema der Kunst überhaupt, weil allein schon die Tatsache, dass die wie auch immer gearteten Sehnsüchte immer wieder aufgeschrieben werden statt gelebt, ein Hinweis auf den entfremdeten Zustand der Existenz aller ist? Möchte die Kunst, dass die Wirklichkeit sie einholt? Ist es ihr Ziel, sich selber abzuschaffen? Kann Kunst, weil die Realität stärker ist als die Sehnsüchte, nur sozusagen bewusst scheitern, mindestens solange die Spielregeln unserer Gesellschaft dem die größten Erfolge zuerkennen, der, mit welchen Mitteln auch immer, am meisten Dollars, Mark und Franken in sein Sparschwein tut?
Wäre die Sehnsucht erfüllt, wenn das Bild der innern Wirklichkeit mit der äußern zur Deckung gebracht würde? Würden, täten, hätten und könnten wir dann endlich? 

Auszug aus: Urs Widmer, Wild Herbeigesehntes. Frühe Erzählungen. Diogenes Verlag 2024. S. 9-12.

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Wild Herbeigesehntes

Frühe Erzählungen

Wirklich berühmt wurde Urs Widmer mit seinem Spätwerk: ›Der blaue Siphon‹, ›Der Geliebte der Mutter‹ oder ›Das Buch des Vaters‹ finden auch heute noch viele begeisterte Leserinnen und Leser. Aber da ist viel mehr, wie beim berühmten Eisberg schlummert auch beim Zeitzeugen Urs Widmer vieles unter der Oberfläche und wartet auf Erkundung. Seine frühen Erzählungen sind der beste Anfang: anarchische Freude daran, das Gebälk der Literatur knarzen zu lassen.


Hardcover Leinen
336 Seiten
erschienen am 21. Februar 2024

978-3-257-07301-0
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
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