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›Der etwa vierzigjährige Mann‹ - Hartmut Langes Novellen zum Reinlesen

Drei Novellen, im Mittelpunkt drei Männer – nur einer von ihnen ist etwa vierzig – und die großen Fragen des Lebens. Hartmut Lange bündelt in seiner Neuerscheinung eine Sammlung von klugen Texten, philosophisch und fein beobachtet. In Der etwa vierzigjährige Mann, so der Titel des Buches und auch des ersten Textes, geht es auf Zeitreise, auf die Suche nach Schönheit und Liebe und Sinn. Klingt altbekannt, doch Hartmut Langes unverkennbare Art zu erzählen macht neugierig. Das zeigt vielleicht auch diese Leseprobe, der Beginn der ersten Novelle.

© Hans-Christian Plambeck/laif

Leseprobe

Auszug, S. 11-13

Kennt man die Elbe, jenes 1094 Kilometer lange Gewässer, das im tschechischen Riesengebirge entspringt und bei Cuxhaven in die Nordsee mündet? Meist sieht es so aus, als hätte der Fluss, wo er das Flachland pas­siert und besonders, wenn es regnet, Mühe, seine Ufer zu verteidigen. Dann wirkt alles wie eine überflutete Sumpflandschaft. Es gibt aber auch Gebiete, die man, obwohl von Wasser umgeben, betreten kann. Und steht dort nicht ein etwa vierzigjähriger Mann? Er hat den Mantel ausgezogen und über den Arm gelegt, er sieht sich mehrmals um, geht auf das Ufer zu, um hinter dem hohen Schilfgras zu verschwinden. Und während man dies beobachtet, erinnert man sich daran, dass hier, es ist nicht lange her, zwei ver­feindete Länder aneinandergrenzten und dass man versucht war zu fliehen und immer in eine Richtung, nämlich von Ost nach West, dorthin, wo die Elbe das Meer erreicht. 

Aber mittlerweile hatte sich die politische Landschaft geändert. Der etwa vierzigjährige Mann hatte keinen Grund mehr, an ein anderes Ufer zu fliehen. Er hätte einen Mietwagen oder ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen können. Schließlich hörte man, wie auf der nahen Brücke, auch wenn man sie nicht sah, ein reger Verkehr im Gange war. Und doch warf der Mann plötzlich den Mantel, den er ausgezogen hatte, in hohem Bogen in das Wasser. Dann griff er in das Schilf, um einige Kleidungsstücke herauszuziehen. Genauer: Er wechselte nicht nur den Mantel, sondern auch Hemd und Hose, sodass er zuletzt nicht mehr wie ein Bewohner aus der Gegend, sondern wie jemand aus einer an deren Zeit aussah. 

»Ich habe keine Lust mehr, in dieser Ödnis anwesend zu sein«, hörte man ihn sagen. »Eine andere Kleidung, schon eine Tunika, macht die Sache leichter, und falls es möglich ist, werde ich auf der Stelle in jene Landschaft hinüberwech­seln, die man uns jahrhundertelang anempfohlen hat.« 

Und nun geschah etwas, das den merkwürdigen Anblick dieses Mannes, er war dabei, den Gürtel über der Tunika zu binden, übertraf. Die Bäume ringsherum verschwanden, so dass man plötzlich die Brücke sah, auf der aber keine Autos, sondern eine Carruca auftauchte und direkt in Richtung Ufer, genauer dorthin fuhr, wo der Mann mit der Tunika stand. Sekunden später saß er, und dafür gab es keine Erklärung, auf der mit Tuch überzogenen Bank ebenjener Carruca. 

Man kennt das Gefühl, das einen überkommt, wenn man, und auf so bequeme Weise, die Gelegenheit erhält, sich einfach, und als wäre man im Urlaub, in der Vergangenheit umzusehen. Und so kam es, dass die Carruca, die eben noch die Elbbrücke entlangfuhr, in die berühmte Via Appia einbog. 

Die Straße war in schlechtem Zustand und das Rattern der mit Eisen beschlagenen Räder über die großen Steinquader unerträglich, und zuletzt lenkte man das Gefährt in Richtung Westen, wo es schließlich vor einer Häuserfront zum Stehen kam. Bedienstete öffneten eilig die Tür der Carruca, und auch den kleinen Koffer, den der etwa vierzigjährige Mann in Händen hielt, trug man und ohne ein Wort der Erklärung in das Gebäude. 

Im Erdgeschoss befanden sich Geschäfte mit einem Hof und mehreren Anbauten, die Fenster bildeten eine einheitliche Fassade, und dahinter gab es Wohnungen, die man von der Straße aus erreichen konnte. Sie waren eng. Hier lebten die weniger Begüterten, und der Zustand dieser sogenannten Insulae war nicht sehr robust. Es kam immer wieder vor, dass Häuser wegen baulicher Mängel einstürzten, aber dies konnte der etwa vierzigjährige Mann nicht wissen. 

Er zögerte, blieb stehen, schloss den Gürtel, der sich über der Tunika gelöst hatte, und keine Viertelstunde später stand er auf einem Balkon und versuchte, sich in dem Wirrwarr der Häuser, die er vor Augen hatte, zurechtzufinden. Es war niemand mehr zu sehen, und da man ihm keinerlei Informationen gegeben hatte, überlegte er, ob es sinnvoll wäre, erst einmal in die Innenstadt zu gehen, um sich einige der berühmten Bauten anzusehen. 

Als er unterwegs war, bemerkte er, wie sehr er sich überanstrengt hatte. Selbstverständlich war es eine Zumutung, ohne Ruhepause und ohne etwas zu essen, von der Elbe bis in die römische Hauptstadt zu gelangen. Aber schon hörte er wieder das Rattern der Carruca, und tatsächlich öffnete sich, nachdem man ihn eingeholt hatte, die Tür. Jemand schien ihm die Hand zu reichen. Er stieg ein, und man fuhr ihn, was seit Langem sein Wunsch gewesen war, zum Amphitheatrum Novum.

 

Der etwa vierzigjährige Mann
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Der etwa vierzigjährige Mann

Auf der Suche nach Schönheit begibt sich ein Mann auf eine Reise durch die Jahrhunderte und lernt ihre Schrecken kennen. Ein anderer verliert sich in der Liebe und stößt doch nur auf ihre Unmöglichkeit. Und einen dritten lässt die Frage nach den letzten Dingen in den Abgrund blicken. Wie kaum ein anderer Schriftsteller der Gegenwart vermag Hartmut Lange unsere Nöte zu fassen, zu verdichten und dabei doch so drängend auf den Punkt zu bringen, dass man sich nicht entziehen kann.


Hardcover Leinen
128 Seiten
erschienen am 26. März 2025

978-3-257-07343-0
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

 

Hartmut Lange, geboren 1937 in Berlin-Spandau, studierte an der Filmhochschule Babelsberg Dramaturgie. Für seine Dramen, Essays und Prosa wurde er vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm der Novellenband ›Am Osloer Fjord oder der Fremde‹ (2022). Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin.