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Eine Reise nach Czernowitz. Auf den Spuren den Sängers Joseph Schmidt, 1904–1942

Von Lukas Hartmann

Czernowitz heute. Foto via pixabay.com

Nach der Landung in Czernowitz, Ukraine, eine kurze Gehstrecke zum Flughafengebäude. Ich warte, bis die Koffer mit Kleinbussen zum Eingang gebracht, von Hand ausgeladen und hingestellt werden. Kein Rollband. Ich werde abgeholt von einem Mitarbeiter des Zentrums Gedankendach, einer Vermittlungsorganisation für deutsche Besucher, die in Czernowitz die Vergangenheit suchen, das Klein-Wien der Jahrhundertwende, wie die Stadt in ihrem jüdisch dominierten Völkergemisch genannt wurde.

Das Hotel AllureInn, wo ich untergebracht bin, liegt am Anfang der ehemaligen Herrengasse, die tatsächlich in vielem an die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie erinnert, zu der Czernowitz am östlichen Rand des Reichs gehörte, so wie die Garnisonsstadt, die Joseph Roth im Radetzkymarsch beschreibt. Am nächsten Tag stehe ich, abends gegen sechs, vor einem Kino in Czernowitz; Plakate werben für Filme mit Liebespaaren. Das Gebäude ist aus den Resten der ehemaligen Synagoge in der Oberstadt entstanden, die Kuppel wurde zerstört. Hier sang der junge Joseph Schmidt zuerst im Kinderchor mit und wurde später Vorsänger, Kantor, bevor er, als Ausnahmetalent, zum Gesangsstudium nach Berlin ging und von dort aus, dank der Rundfunk-Übertragungen, in den deutschsprachigen Ländern, in Belgien und Holland und später auch in den USA berühmt wurde. Weltberühmt sei er, stand bis 1933 in den deutschen Zeitungen, ganze Stadien füllte er bei seinen Konzerten, und das Publikum drängte sich in die Kinosäle, wo die Filme mit ihm in der Hauptrolle, allen voran Ein Lied geht um die Welt gezeigt wurden. Über 30 Prozent der Bevölkerung von Czernowitz waren damals Juden, sie sprachen hauptsächlich Jiddisch; die jüdische Elite in der Oberstadt unterhielt sich lieber auf Deutsch. Weit weg ist diese Epoche, ungefähr noch 100 Juden leben heute in Czernowitz. Hier, im Vestibül des Kinos, stehen Jugendliche herum, sie unterhalten sich lebhaft auf Ukrainisch, warten, mit einem Becher Wasser oder Cola in der Hand, auf die nächste Vorstellung. Die meisten seien arbeitslos, erzählt mir Switlana, meine Dolmetscherin, sie hangeln sich vom einen Gelegenheitsjob zum nächsten. Nur wenige sind in der Lage, sich auf Englisch zu verständigen; Deutsch spricht niemand. Im Halbdunkel entdecke ich eine Gedenktafel für Schmidt. Sein Porträt im Halbprofil wirkt jugendlich, beinahe heldenhaft, dass er kleingewachsen war, würde niemand glauben, daneben, unter dem Davidstern, eine Inschrift in kyrillischen Lettern mit den Lebensdaten, 1904 bis 1942. Schmidts Weg, das steht hier nicht, führte von den Großerfolgen ins Flüchtlingselend, von der Bukowina über die Weltstädte Berlin und Wien in die Schweiz, ins Interniertenlager Girenbad im Zürcher Oberland, wo er, mit 38, unter ungeklärten Umständen starb. Zu jener Zeit war Czernowitz in sowjetischer Hand, die meisten Juden wurden deportiert. Schmidt, krank in der Schweiz, wusste nicht, ob seine Mutter noch lebte.

Foto: CZERNOWITZ - Kino - früher Synagoge. Detlef Langer [CC BY-SA 3.0] via Wikimedia Commons.

Der Weg in die Unterstadt führt treppab zur Grenze des ehemaligen Ghettos, in dem bis 1939 der Hauptteil der jüdischen Bevölkerung lebte. Dort findet sich das einzige Lebensmittelgeschäft in Czernowitz, das koschere Waren anbietet. Es ist klein, ein wenig schäbig. In der Nähe steht seit kurzem ein kleines Denkmal für Rose Ausländer, die hier geboren wurde, ebenso wie Paul Celan, ursprünglich Paul Antschel. Der Kopf der jungen Dichterin auf einem Sockel mit einem Kurzgedicht: 

«Eine goldene Kette
fesselt mich an meine urliebe Stadt
wo die Sonne aufgeht
wo sie untergegangen
für mich.» 

In kurzer Distanz die ehemalige Synagoge der orthodoxen Juden, sie wirkt äußerlich verfallen, es riecht nach geröstetem Kaffee, und in der Tat haben dort zwei junge Männer eine Kaffeerösterei eingerichtet, mit neuster Technologie und einem Espresso-Automaten. Sie sind daran, die Innenräume zu renovieren, sie bieten uns einen Espresso an, zeigen sich interessiert an der Geschichte des Baus. Fresken aus der jüdischen Vergangenheit, die sie freigelegt haben, wollen sie bewahren. Hier habe der orthodoxe Rabbi, höre ich später, die Gläubigen in starker Abhängigkeit gehalten, im Gegensatz zur oberen Synagoge, dem jetzigen Kino, wo ein aufklärerischer Geist herrschte. Schmidts Vater, Kleinbauer im nahen Davideny, war ein Chasside. Ohne die musikliebende Mutter hätte er es dem Jungen nicht erlaubt, Geigen- und Gesangsunterricht zu besuchen und weltliche Lieder zu singen; Joseph sollte sich, wie es die Tradition vorschrieb, streng aufs Beten und die Lektüre der Thora beschränken.

Czernowitz wurde erstaunlicherweise im Krieg nicht zerstört, aber durch die Nationen- und Ideologiewechsel immer wieder umgenutzt und umgedeutet.

Früher Abend in der ehemaligen Herrengasse, heute nach Olha Kobyljanska benannt, der großen ukrainischen Schriftstellerin, die man im Westen nicht kennt. Es ist die einzige verkehrsfreie Straße in der Stadt, auch wenn Radfahrer in raschem Tempo zwischen den schlendernden Passanten herumkurven. Die jungen Frauen sind aufgedonnert, stark geschminkt, sie gehen auf hohen Absätze, tragen Miniröcke. Sie schwatzen, lachen nebeneinander in kleinen Gruppen; dass die meisten zur ukrainisch-orthodoxen Kirche gehören, würde man kaum vermuten. Die jungen Männer, oft tätowiert und kurzärmlig, zeigen ihre Muskeln, begutachten offensiv die Frauen, geben auch an den Restauranttischen im Freien mit überlauten Stimmen den Ton an. Hier finde die Gender-Diskussion, sagt mir später Switlana, noch nicht statt. Die Straße führt leicht ansteigend hinauf bis zum Paul-Celan-Literaturzentrum in einem Fin-de-Siècle-Gebäude, dem Mittelpunkt des alljährlich stattfindenden zweisprachigen Literaturfestivals. Fassaden im klassizistischen Stil, Fresken, die von Klimt stammen könnten, alte, ornamental verzierte Türen und Türschilder. Aber das ehemalige Grand-Hotel ist heute eine Bank. Aus Bürgerhäusern sind Platten-, Kleiderläden, Pizzerien geworden. Es gibt immerhin eine Buchhandlung, die teuren Bücher aus dem Westen sind für Touristen bestimmt. Aus den offenen Ladentüren schallt lauter Ukraine-Pop, er übertönt die Akkordeonklänge von Straßenmusikanten. Die geschichtlichen Epochen überlagern sich nicht wie in Rom, sie bilden eine Art Hologramm, in dem alles zugleich enthalten ist. Czernowitz wurde erstaunlicherweise im Krieg nicht zerstört, aber durch die Nationen- und Ideologiewechsel immer wieder umgenutzt und umgedeutet.

Czernowitz, Herrengasse. Foto: [public domain] via Wikimedia Commons

In meinem Hotelzimmer schlagen bis elf Uhr nachts Klangwogen zusammen, links vom Grillrestaurant draußen und rechts vom Empfang her, die Wände sind dünn. Es müsse so laut sein, sagen die zwei Frauen am Empfang auf Englisch, die meisten Gäste wollten es so. An die Lautstärke gewöhne man sich. Beide haben studiert, mit Master-Abschluss; einen Langzeitjob, der ihren Qualifikationen entspricht, haben sie bisher nicht gefunden. Switlana, mit ihrem makellosen Deutsch und dem für deutsche Touristengruppen eindrücklichen Doktortitel, hat da mehr Möglichkeiten und nutzt sie auch. Ihre Eltern verließen das Dorf, in dem sie aufwuchs, als sie zwölf war, sie fanden Arbeit in Deutschland. Das Mädchen musste den kleinen Bruder beaufsichtigen. Sie hörten zwei Jahre lang nichts von den Ausgewanderten, die Großmutter, bei der sie wohnten, hatte kein Telefon, auch Briefe blieben aus. So beschloss das Mädchen, die Eltern seien tot. Und als sie doch zurückkamen und die Kinder mit Geschenken überhäuften, wollte Switlana gar nicht mehr an die Realität glauben. Die Erwachsene, die nun selber einen vierzehnjährigen Sohn hat, fühlt sich noch heute von dieser Lebensphase traumatisiert. Es sei auch heute das Schicksal unzähliger ukrainischer Kinder, elternlos aufzuwachsen, betreut von Großeltern, Verwandten, Nachbarn. Hunderttausende junger Väter und Mütter arbeiten in Polen, Russland, Deutschland, es sind begehrte Arbeitskräfte, auch mit Schwarzarbeit verdienen sie wesentlich mehr als in der Ukraine.

Drei fünfzehnjährige, sonntäglich gekleidete Schülerinnen, wohl die besten der Schule, haben einen Vortrag über Joseph Schmidt vorbereitet

Die Holperfahrt mit Oxana, der Leiterin des Gedankendachs, nach Davideny, dem Geburtsort von Schmidt, etwa vierzig Kilometer auf staubigen, von tiefen Schlaglöchern übersäten schmalen Straßen. Dürrer Mais dominiert die Felder, dazwischen am Boden reife Kürbisse, ältere Frauen mit Kopftuch; einen einzigen Traktor sehe ich. Unser Taxi, ein Kastenwagen, hinterlässt eine dichte Staubwolke. Das Dorf, das ich erwartet habe, ist gar keines, es ist eine weiträumige Streusiedlung. Im allein stehenden Schulhaus, das über dreihundert Schülern Platz bietet, werden wir von drei imposanten Lehrerinnen erwartet, eine ist die Bezirksleiterin und trägt eine bestickte Trachtenbluse. Sie führen uns über frisch geschrubbte Holztreppen in einen Vortragsraum. Oxana und ich werden an ein Pult komplimentiert, auf dem belegte, mit Wurst oder Sardinen belegte dünne Schwarzbrotscheiben für uns bereitliegen, dazu wird Wasser oder Tee angeboten. Wir danken, ich überreiche als Geschenk eine Packung mit Lindt-Schokolade. Drei fünfzehnjährige, sonntäglich gekleidete Schülerinnen, wohl die besten der Schule, haben einen Vortrag über Joseph Schmidt vorbereitet, der sich aus Internet-Recherchen zusammensetzt, sie lesen, von Oxana übersetzt, die Passagen von handbeschriebenen Blättern ab, rühmen Schmidt als größten Sänger seiner Zeit, er sei auf seiner Flucht über die Schweizer Grenze durchs Gebirge geirrt und erfroren. Nein, er sei erwiesenermaßen in einem Internierungslager gestorben, wende ich ein. Die verantwortliche Lehrerin erklärt mir barsch, zu Schmidts Tod gebe es unterschiedliche Versionen, jedenfalls werde sein Andenken auch heute noch in seinem Geburtsort hochgehalten. Dann werden Lieder und Arien von Schmidt über ein Kassettengerät abgespielt, das deutsche Gönner und Schmidt-Verehrer für die Schule gespendet haben. Die Schülerinnen haben keine Fragen an den Gast, eine ganze Klasse wird hereingeholt, wir posieren für ein paar Bilder, die die Lehrerinnen mit ihren Handys aufnehmen. In einem kleinen Raum sehen wir weitere Fotos von Schmidt, aber auch von anderen Berühmtheiten aus Davideny, von denen ich nichts weiß, ich kann ja nicht einmal die kyrillischen Buchstaben lesen, ohne zu stocken. Wo Schmidt genau geboren wurde, wo er aufwuchs, weiß man offenbar nicht. Wahrscheinlich steht das Pachthaus nicht mehr. Viel ländlicher als heute kann die Gegend damals, 1904, nicht gewesen sein. Die neu erbauten kleinen Häuser, die man, weit weg vom Schulgebäude, hier und dort sieht, wurden finanziert durch das Geld, das die Migranten nach Hause schicken; darin leben oft die Großeltern mit den zurückgelassenen Kindern. Das war in apulischen Dörfern, von wo aus die arbeitsuchenden Jungen nach der Schweiz und Deutschland strömten, nicht viel anders. Schmidt war Migrant in vielerlei Hinsicht. Er verließ mit zehn Jahren das Dorf Davideny, kam in die Stadt Czernowitz, verließ auch sie, erwarb sich den Ruf eines Ausnahmesängers in Berlin, war dann, als verfolgter Jude, in Wien, in Brüssel, hielt sich auf der Flucht, die immer weiterführte, in Südfrankreich auf, flüchtete 1942 in die Schweiz, wo er seine Stimme verlor und in einem Interniertenlager starb.

Gedenktafel für Joseph Schmidt am ehemaligen Restaurant Waldegg in Girenbad Gd. Hinwil, Schweiz. Foto: TomQ2000 [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Sadagora, heute ein Vorort von Czernowitz, in dem bis 1850 der Wunderrabbi Israel Friedmann, ein Chasside, residierte. Unterwegs wieder mit Switlana. Es ist Samstag, Sabbat, das haben wir nicht bedacht. Der Taxifahrer lacht uns ein wenig aus, er hat es wohl gewusst, aber nichts gesagt. So ist die Synagoge geschlossen, in die damals Tausende strömten und den berühmten Mann, der im Luxus lebte, um Zuspruch, Rat oder Heilung baten.

Der Palast des Rabbi. Foto: [public domain] via Wikimeddia Commons.

Wir überqueren auf der rasanten Rückfahrt, bei der wir den Fahrer dauernd zur Vorsicht ermahnen, den Pruth, stoppen vor der Brücke, die dann Switlana und ich zu Fuß überqueren. Da unten strömt das dunkelbraune Wasser gemächlich dahin, Schmidt hat ihn geliebt, diesen Fluss, wie er selbst erzählte, am Ufer vielleicht die hebräischen Gesänge geübt, die er schon als Halbwüchsiger in der Synagoge vortrug. Als Kantor begann er seine Karriere. In den frühen Dreißigerjahren, als der Taktschritt der SA immer lauter wurde, ließ er sich, der kleine Mann, am Adriastrand fotografieren, in Badehosen und umgeben von Bewunderinnen. Da war er, noch nicht dreißig, zum umschwärmten Star geworden.

Je näher wir der Innenstadt kommen, desto dichter wird der Autoverkehr, desto größer Switlanas Atemnot und das Brennen in ihren Augen. Mit schwärzlichen Abgasen empfängt uns die neue Zeit. Davon hat Schmidt, als er am Pruth Kühe hütete, so wenig geahnt wie vom künftigen Schicksal der Juden.

 

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Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.

Der Sänger ist am 24.4.2019 erschienen. Auch als eBook.

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